Maria Feldmann, meine Großmutter, wurde als ältestes Kind der Eheleute Wilhelm und Florentina Löher, geborene Henderkes aus Kirchrarbach, am 1. Dezember 1887 geboren. Als sie am 28.4.1957 in Sallinghausen starb, war ich ein dreijähriger Hosenmatz; kann mich also nicht bewusst an sie erinnern. Ich bin deshalb auf die Aussagen und Erzählungen meiner Eltern angewiesen, um vom Naturell und dem Leben meiner Großmutter zu erfahren. Sie muss in ihrer Art sehr bescheiden gewesen sein und hätte mir deshalb abgeraten, hier über sie zu berichten. Sie hat es jedoch verdient, dass man ihr gedenkt. Hatte sie doch eine harte und entbehrungsreiche Lebenszeit zu bestehen.
Ihre Mutter verstarb, viel zu früh, im Jahre 1895. Maria Löher war gerade 7 Jahre alt. Ihre jüngeren Geschwister, Elisabeth, 6-jährig, Franz, 4-jährig, Josef, 2 Jahre alt und Albert, gerade
wenige Monate alt, mussten versorgt werden. Ihr Vater, Wilhelm Löher, war in Wenholthausen als Marketender tätig und verdiente zusätzlich bei den Bauern des Dorfes als Tagelöhner ein karges
Zubrot. Es waren bescheidene Verhältnisse; erst jetzt recht, nachdem die Mutter nicht mehr da war. Maria wurde somit schon sehr früh in die Pflicht genommen und musste für ihre jüngeren
Geschwister Mutterstelle einnehmen. Trotzdem ist bekannt, dass sie neben ihren täglichen Pflichten eine gute, talentierte Schülerin war, die das Zeug hatte, es weiter zu bringen. Sie musste
jedoch die Unterstützung ihres Lehrers ablehnen, als dieser ihr den Besuch einer weiterführenden Schule empfahl. Die widrigen Umstände ließen das nicht zu; sicher mangelte es auch am notwendigen
Schulgeld.
Ihr Vater heiratete recht bald wieder. Am 28.5.1896 wurde Luise Pieper aus unserem Nachbarhause in Sallinghausen ihre Stiefmutter. Großmutter hat einmal geäußert, dass sie ein gutes Verhältnis zu
ihr gehabt hätte.
Am 19.5.1897 wurde Marias Stiefschwester Louise geboren. Die Familie ereilte ein Jahr später ein schwerer Schicksalsschlag:
Josef, das kleine Brüderchen, verstarb durch einen tragischen Unfall am 30.6.1898. Beim Spielen mit einer brennenden Kerze fing seine Kleidung Feuer. Er starb an seinen schweren Verbrennungen. Im
Auftragsbuch des Schreiners Bauerdick (siehe unter Geschichte/n – Spurensuche) wurde unter dem Kontoblatt des Wilhelm Löher, Wenholthausen, am 1. Juli 1898 eingetragen: „Einen Kindersarg gemacht:
8 Mark“. Er quittierte am darauffolgenden Tag die Anzahlung von 5 Mark. Den Rest erhielt er am 19. Juli.
In den nächsten Jahren wurden noch weitere drei Stiefgeschwister geboren: Theresia *26.5.1899, Arnold *4.3.1901 und Anton Löher *26.3.1903, welcher jedoch als Kleinkind verstarb. Die Familie
konnte auf die Hilfe der inzwischen 15-jährigen Tochter Maria nicht verzichten.
Großmutter verrichtete schon sehr früh viel zu harte körperliche Arbeit. Diese fand sie bei den Bauern des Dorfes, hauptsächlich auf dem Hofe "Schültkens", heute Fisch in Wenholthausen. Das
Ausmisten der Ställe war früher Arbeit der Frauen, so auch die Feldarbeit. Nicht nur darin war Großmutter geübt. Hauswirtschaftliche Aufgaben hatte sie, wie geschildert, schon sehr früh erfüllen
müssen. Wie jedoch eine gute Hausfrau einen Haushalt perfekt zu führen hatte, erlernte sie bei der Apothekerfamilie Röper in Münster. Dort weilte sie ein ganzes Jahr. Großmutter hätte dort eine
langjährige feste Anstellung haben können. Sie war der Familie dort ans Herz gewachsen, was noch ein langjähriger Briefaustausch bezeugt. Doch ihr ausgeprägter Familiensinn und die Sorge um ihre
Daheimgebliebenen trieb sie bald wieder ins heimische Wenholthausen. Sie suchte Arbeit in der näheren Umgebung, um der Familie stets hilfreich beiseite stehen zu können. So wurde sie, sicher
durch Vermittlung der Piepers in Sallinghausen, in deren Nachbarschaft auf "Nurks Hof" als Magd beschäftigt.
Wilhelm Feldmann, mein Großvater, führte damals den Hof; alleine mit den Geschwistern Bornemann, die alt und fast erblindet waren. Eine tüchtige Magd war hier sehr willkommen. Großmutter
versorgte diesen Haushalt und verrichtete auch die Stall- und Feldarbeit. Nach vollendeter Tageslast lief sie oft, oft heimlich, nach Wenholthausen. Sie sorgte sich um die Familie und leistete
Hilfe, wo sie nur konnte. Zu Fuß eilte sie dann auch wieder durch den "Estenberg" zurück. Am 7.5.1908 starb ihr Vater, an dem sie immer ihren Halt gefunden hatte. Doch ihr Leben musste
weitergehen.
Damals hatte die gesellschaftliche Stellung einer Familie noch eine überragende Bedeutung. Der Standesdünkel war bis in alle Lebenslagen existent und spürbar, noch mehr wie er in der heutigen
Zeit in Erscheinung tritt. Umfang und Wert der "Mitgift", die gesellschaftliche Anerkennung, die Herkunft aus einem „sogenannten guten Haus“ waren damals notwendige Attribute und Ansprüche, die
an eine zukünftige "Gutsfrau" gestellt waren. Meine Großmutter konnte damit nicht aufwarten.
Wilhelm Feldmann, mein Großvater, war auf einem großen Hof in Heiminghausen aufgewachsen, bevor er von seiner kinderlosen Tante Antonette, verheiratete Wüllner in Sallinghausen, als Universalerbe
eingesetzt wurde. Schnell musste er jedoch feststellen, dass auf diesem bescheidenen, durch langjährige Krankheit des Vorbesitzers vernachlässigten Besitz, harte Arbeit vorrangig gefragt war. Für
ausgeprägten "Bauernstolz" war da kaum mehr Platz, auch wenn sich Großvater davon immer ein wenig aufgehoben hat.
Umso mehr staunten Nachbarn und Freunde, als bekannt wurde, dass Großvater um die Hand seiner Magd angehalten und sie zu seiner Ehefrau erkoren hatte. Ihm war nicht entgangen, dass seine Magd
nicht nur eine gute und fleißige, sondern auch eine stattliche und nett anzusehende junge Frau war. Er hat es auch niemals bereut, sie am 16.11.1912 in der Esloher Pfarrkirche zum Traualtar
geführt zu haben.
Großmutter gebar sechs Kinder: Josef *5.11.1913, Wilhelm *12.9.1915, Maria *17.2.1917, Alfons *24.11.1918, Otto (mein Vater) *13.6.1921 und Alfred *11.9.1924. Die Gesundheit meines Großvaters war
nach Bekunden meines Vaters damals nicht von bester Art, sodass Großmutter einen Großteil der anstehenden Hofarbeit klaglos übernahm. Dennoch musste zeitweise der Hof wirtschaftlich verkleinert
werden, weil die Arbeit nicht mehr bewältigt werden konnte. Auch Großmutters ausgeprägter Gottesglaube trieb sie alltäglich zu ihrer Pflicht. Allmorgendlich, nach beendeter Stallarbeit, bei jeder
Witterung, eilte sie zu Fuß zur Frühmesse in die Esloher Pfarrkirche. Ihre Aufopferung für die Familie wurde von ihren Kindern stets erwähnt auf das Höchste anerkannt. Mein Vater verehrte seine
Mutter und sah zu seinen Lebzeiten immer in ihr ein Vorbild. Doch ihr hartes Leben war dennoch für ihn nicht erstrebenswert.
Schon damals, im Jahre 1935, würdigte ihr Sohn Alfons als Siebzehnjähriger in einem Hausaufsatz: "Eine kräftige Unterstützung in dem Bestreben, seinen Platz in der Welt zu behaupten, fand mein
Vater in seiner Lebensgefährtin .." und "Ihre Jugend war nicht auf Rosen gebettet .." und "Konnte meine Mutter damals keine große Mitgift in die Ehe bringen, so hat sie diese später durch ihren
ausdauernden Fleiß und ihre Liebe zu uns Kindern doppelt und dreifach ersetzt."
Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, welche Schicksalsschläge die Familie noch ereilen würden.
Der Zweite Weltkrieg begann. Fünf Söhne mussten zum Kriegseinsatz, wovon zwei nicht wieder heimkehrten: Josef fiel am 30.6.1941 in Russland.
Seinem Bruder Wilhelm ereilte der Tod wenige Wochen später am 25.9.1941, ebenfalls in Russland. Meine Großeltern ertrugen dieses Los mit einer für den heutigen Betrachter unvorstellbaren Weise.
Ihre Lebenseinstellung und ihre religiöse Überzeugung gab ihnen die Kraft, die Zuversicht und großes Gottvertrauen, die sie ihren verbleibenden Kindern vermittelten.
Noch im hohen Alter stand für sie alltäglich die Sorge um Familie und Hof im Vordergrund, bis Großmutter am 28.4.1957 nach einem arbeitsreichen Leben verstarb. Sie ging ihrem Mann drei Jahre im
Tode voraus.
Auf ihrem Totenzettel steht geschrieben: "Ihre Sorgen und Mühen galten stets nur Anderen."