Wen trösten solche Worte? Wer sieht einen Sinn darin, ein junges und hoffnungsvolles Leben zu opfern: Für Ziele und Interessen, die nicht nachvollziehbar, nicht einsehbar sind und hinter denen man im Grunde seines Herzens nicht stehen mag?
Ich möchte mit diesem Bericht nicht nur an meine im zweiten Weltkrieg gefallen Onkel, die Brüder Josef und Wilhelm Feldmann erinnern, indem ich ihre Lebensgeschichte und ihr Schicksal beschreibe. Ich will mithelfen, all denen entgegenzuwirken, die heute unsere gemeinsame Geschichte verleugnen und die NS-Ideologie verherrlichen. Ich will nicht, als ein Teil einer scheinbar aufgeklärten Gesellschaft, die ihren Wohlstand dem Jahrzehnte währenden Frieden und den offenen Grenzen Europas verdankt, solches Gedankengut laut schreiend auf den Straßen und Plätzen Deutschlands hören. Wer sich ernsthaft mit der Vergangenheit unseres Landes auseinandersetzt, dem muss bewusst werden - sofern ihn Herz und Verstand nicht verlassen hat - dass Frieden das teuerste menschliche Gut ist und für das es sich lohnt, mit Kräften einzustehen.
Es ist der 20. Mai 1953. An diesem Tag dringen ungewohnte Töne durch die Gemäuer auf Feldmanns Hof in Sallinghausen. Musik und froher Gesang erklingt aus der
Scheune und offensichtlich wird gelacht und gescherzt. Eine froh gestimmte Gesellschaft findet sich hier zusammen, acht Jahre nach Ende eines unseligen Krieges.
Das Brautpaar Otto und Gisela Feldmann, geb. Deichmann, haben sich heute in der St.-Peter und Paul- Pfarrkirche in Eslohe vermählt. Nun lassen sie sich feiern von Verwandten, Nachbarn und
Freunden. Ziemlich genau neun Monate später werden sie meine Eltern sein.
Am nächsten Tag kommt die Ernüchterung. Es wird aufgeräumt. Die Nachbarn packen mit an und bald schon kehrt der Alltag wieder ein auf den Hof. Meinen Eltern stehen schwierige Wochen bevor. Es ist
die Zeit des Gewöhnens an einen neuen Lebensabschnitt und des Anpassens an die Gewohnheiten des Haushalts und der täglichen Rituale. Meine Großeltern Wilhelm und Maria Feldmann sind schon betagt und das Leben hat sie zu ernsten Menschen gemacht.
Sie tun sich schwer mit der Akzeptanz des Neuen und lassen unwillig Veränderungen zu. Und da gibt es noch Alfred, der jüngste Bruder meines Vaters, der erst 1948 aus einem Kriegsgefangenenlager in Sibirien in die Heimat zurückfand.
Es sind die offensichtlichen Dinge des Alltags mit denen sich das jung vermählte Paar auseinandersetzen muss. Doch es steht viel mehr im Raum: Unausgesprochenes, Bedrückendes. Da ist etwas,
was aus Decken und Wänden zu dringen scheint und sich wie ein grauer Schleier auf die Gemüter legt. Meine Mutter beschrieb es später mit folgenden Worten: „Das Lachen war ein seltener Gast
hier.“
Unbewältigte Trauer, Traurigkeit über das, was an Schicksal die Familie ereilt hatte: Die Geschehnisse seit Kriegsbeginn Anfang September 1939 hatten Spuren in der Seele meiner Großeltern
hinterlassen. Dabei hatte einst alles so hoffnungsvoll begonnen.
Geboren und erzogen für ein Leben in Frieden: Kindheit, Schulzeit, Jugendzeit
Meine Großeltern heirateten am 16. November 1912 in der Esloher Pfarrkirche.
Josef, ihr erstes Kind, erblickte am 4. 11.1913 in Sallinghausen das Licht der Welt. Er wurde wie seine nach ihm geborenen Geschwister, Wilhelm * 12.09.1915,
Maria * 17.2.1917, Alfons 24.11.1918, Otto 13.6.1921 und Alfred * 11.9.1924 auf ein arbeitsreiches Leben vorbereitet, streng und christlich erzogen. Schon früh wurden die Kinder angehalten,
mitzuhelfen, damit die Arbeit auf dem Hof, den Wiesen, Feldern und Wäldern bewältigt werden konnte. Kinderarbeit war damals Normalität und die frühe Zuteilung von Aufgaben prägte ihr Bewusstsein
für Verantwortung und die Einhaltung von Regeln. Diese Erziehung galt insbesondere und mit besonderer Strenge dem Erstgeborenen. Josef stand von Anbeginn als Erbe für die Hofnachfolge fest.
Bei seiner Entlassung nach achtjähriger Schulzeit aus der Oberklasse der Volksschule in Eslohe am 31.3.1928 war es deshalb keine Überlegung wert, dass er den Beruf des Land- und Forstwirts
auch in der Theorie beherrschen musste. Die Landwirtschaftliche Schule zu Eslohe, Lehranstalt der Landwirtschaftskammer für die Provinz Westfalen, war als Winterschule eingerichtet. Josef
besuchte diese in den Winterhalbjahren 1929/30 und 1930/31 und beschloss die Schulzeit mit einem guten Abgangs-Zeugnis am 26. März 1931. Noch im Herbst des gleichen Jahres ging er als Eleve für
ein Jahr in die praktische Ausbildung auf den Hof des F. Richart-Willmes in Fleckenberg bei Schmallenberg. Sein Ausbilder bescheinigte Josef nach Beendigung der Ausbildung am 15. Oktober 1932,
dass er ihn als einen fleißigen, zuverlässigen und tüchtigen jungen Mann kennengelernt habe und schloss das Zeugnis mit den Worten: „Wohin ihn seine Wege führen mögen, es begleiten ihn meine
besten Wünsche für seine Zukunft.“
Nun, gerade neunzehn Jahre jung, war seine Ausbildung beendet und seine Aussichten für die Zukunft waren relativ ungetrübt. Er war der potentielle Hoferbe und fühlte sich schnell
mitverantwortlich für eine gute Entwicklung des Hofes. So wurde 1935 an das vorhandene Stallgebäude eine Kornscheune mit Dreschboden errichtet und von Pferden gezogene Erntemaschinen, wie
Grasmäher und einen Bindemäher für die Getreideernte angeschafft. Im März 1936 wurde der Pachtvertrag über die „Chausseeweide“ an der Wenne in Größe von 8 ½ Morgen vom Freiherrn von Weichs
unterzeichnet und damit über eine lange Zeit die Bewirtschaftungsfläche des Hofes vergrößert.
Die Pferdezucht war schon eine Passion meines Großvaters, die nun auch Josef und später mein Vater Otto teilten. Die aktive Mitgliedschaft in dem erst 1928 gegründeten Zucht-, Reit- und Fahrverein Eslohe war da nur natürlich. Auf seinem Schimmel erregte Josef auf Turnieren Aufmerksamkeit. Unter den
Pferdeliebhabern, die fast alle Bauern im heimatlichen Umfeld waren, war er bald kein Unbekannter, so auch nicht auf dem Reister Markt, wo jedes Jahr ein Fohlen aus Feldmanns Zucht zum Verkauf
stand. Josef genoss das Vertrauen seines Vaters und auch die tatkräftige Unterstützung der Geschwister, die gemeinsam einige Jahre segensreich für den Hof schafften.
Wilhelm, der Zweitgeborene, war kaum zwei Jahre jünger wie sein ältester Bruder. In seinen Kindertagen bereitete er den Eltern Kummer, denn er war kränklich
und anfällig. Ein richtiges Sorgenkind, das sich jedoch bald als lebhaft und lebenslustig vom Wesen herausstellte. Er entwickelte sich zu einem hochgewachsenen und stämmigen Bauernburschen der,
wenn es notwendig war, richtig zupacken konnte. Und so stand er seinem älteren Bruder nicht nach, war diesem in mancher Hinsicht sogar überlegen. Er wurde nur ein Jahr nach seinem Bruder in die
Volksschule Eslohe eingeschult und verließ diese dann auch mit einem vergleichbar guten Abschlusszeugnis am 31. März 1929.
Nun fällt auf, dass Wilhelm in den folgenden dreieinhalb Jahren, während sein Bruder Josef zwei Winterhalbjahre die Landwirtschaftliche Schule und im Anschluss daran ein praktisches
Ausbildungsjahr als Eleve absolvierte, für die Arbeit auf dem elterlichen Hof ununterbrochen zur Verfügung stand. Er stellte somit seine Interessen zurück, ersetzte seinen Bruder und da er mit
Leib und Seele den Beruf als Bauer erwählte, besuchte er im Oktober 1932, wenige Tage nach Rückkehr Josefs aus Fleckenberg, in Eslohe die Landwirtschaftliche Winterschule für zwei
Winterhalbjahre. Dort schloss er am 27. März 1934 mit einem hervorragenden Abgangszeugnis ab. Die Note „sehr gut“ im Fach Religion deckt sich mit den Aussagen meines Vaters über Wilhelm,
dass dieser sehr fromm gewesen sei, mit einem vorbildlichen Charakter, großem Gerechtigkeitssinn und mit einem ausgeglichenen Wesen ausgestattet. Seine Natur- und Heimatverbundenheit zeigt sich
heute an den letzten, noch erhaltenen Apfelbäumen, die Wilhelm damals veredelt hat. Und auch das Halten von Bienen war ihm nicht fremd. Am Hof gegenüber befindet sich der „Estenberg“. Dort hatte
er in einer dicken Eiche einen Aufsitz errichtet, wo er viele Stunden verbrachte, ein Buch las oder einfach nur hinunter ins Tal und auf seinen elterlichen Hof schaute. Doch auch die Geselligkeit
kam ihm gelegen und so handelte ihm der erstmalige Alkoholgenuss nicht nur einen dicken Brummschädel, viel mehr aber den Ärger seines asketischen Vaters ein, der untröstlich und ohne Verständnis
reagierte.
Weit und breit war Wilhelms Kraft bekannt und geschätzt, spätestens nachdem er auf dem Reister Markt das Angebot eines Preisboxers annahm und diesem vor einem begeistert grölenden Publikum
kräftig zusetzte. Der Hufschmied schätze Wilhelms Hilfe beim Beschlagen unruhiger Gäule. Seine Hände umschlossen die Fessel des Tieres so fest, einem Schraubstock gleich, dass es sich einfach
fügen musste.
Nun war Wilhelm bereits zwanzig Jahre alt und so recht war seine Zukunft nicht gesichert. Im Januar 1936 nahm er in Münster vier Wochen lang an einen Lehrgang zum Kontrollassistenten „mit
ziemlich gutem Erfolg“ teil. Dem folgte eine Anstellung im Kreiskontrollbezirk Warendorf ab 1. Mai 1936 als Milchkontrolleur. Doch schon Mitte September trat er auf eigenem Wunsch aus dem
Dienstverhältnis aus. Die Tätigkeit wird ihn nicht erfüllt haben, denn bereits wenige Tage später begann er auf dem Hof Tillmann in Niedernhöfen bei Neuenrade ein praktisches Jahr als Eleve. Ein
Jahr später erhielt er vom Reichsnährstand sein gutes Prüfungszeugnis für die bäuerliche Werkprüfung. Ende September 1937 verließ er den Ausbildungsbetrieb Tillmann mit einem Zeugnis, dessen
Verfasser nur gute Worte fand und ihn dazu befähigt sah, eine Verwalterstelle auf einem größeren Gut anzunehmen.
Bereits am darauffolgenden 1. Oktober begann Wilhelm sein Arbeitsverhältnis als landwirtschaftlicher Gehilfe auf dem Hof Große-Westhues in Dreisborn bei Arnsberg. Dort blieb er nur kurz,
bis Mitte April 1938, weil ihn eine Stelle als Verwalter auf einem anderen Gut lockte. Kurz war auch das Zeugnis seines Arbeitgebers und endete mit der Bemerkung: „Er war nüchtern, ehrlich und
fleißig.“ Die Dienstzeit in Dreisborn war durch einen acht Wochen dauernden Wehrdienst bei der 16. (E.) Kompanie des Infanterie-Regiment Nr. 60. unterbrochen. „Bedingt Tauglich“ wurde bei
der Musterung beim Wehrbezirks-Kommando Arnsberg festgestellt. Dennoch kam Wilhelm als ausgebildeter Schütze mit dem „sehr guten“ Führungszeugnis an seine Arbeitsstelle zurück.
Bereits einen Tag nach Beendigung des Dienstverhältnisses in Dreisborn trat er als Verwalter seinen Dienst auf dem Hof des H. Tillmann in Grübeck bei Eisborn an. Auf diesem über neunzig Hektar
großen Hof, dessen Besitzer über einen längeren Zeitraum durch einen Unfall arbeitsunfähig war, blieb er bis Ende März des darauf folgenden Jahres. Wilhelm hatte in dieser Zeit das volle
Vertrauen seines Brotherrn erworben und erhielt zum Abschied ein Zeugnis, in dem dieser ihn als einen arbeitsfreudigen und umsichtigen Verwalter empfahl. „Er war uns ein angenehmer und
zuvorkommender Hausgenosse. Ich wünsche ihm das Beste für seine weitere Zukunft.“
In den Sommermonaten 1939 arbeitete Wilhelm einige Wochen auf einem Hof in Höllinghofen, bevor er in Billmerich bei Unna eine Stelle annahm, wo er als Holzfuhrmann bis Ende September
Beschäftigung fand.
Da hatte bereits mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen am 1.9. 1939 der Zweite Weltkrieg begonnen und sein älterer Bruder Josef war bereits seit Februar „zur Sicherung der deutschen
Westgrenze“ im militärischen Einsatz.
Dem Sog der Zeit konnten sie sich nicht entziehen: Sie zogen in den Krieg
Gaben uns die Zeugnisse ihrer Schulen, die ihrer Ausbilder und Dienstherren Auskunft über den Werdegang ihres jungen Lebens, so treten nun Dokumente anderer Art an deren Stelle. Die
Wehrpässe und zahlreiche Feldpost-Briefe von Josef und Wilhelm halte ich in meinen Händen. Sie geben heute Zeugnis über den Teil ihres Lebensweges, der so nie geplant und erahnt wurde, aber dem
sie sich wie so viele andere junge Männer in dieser schwierigen Zeit unmöglich entziehen konnten.
Der Wehrpass wurde während der NS-Zeit an alle wehrpflichtigen männlichen Bürger ausgegeben und diente aus Ausweis gegenüber den Militärbehörden. Wurde der Soldat zum Dienst eingezogen, musste
der Pass an die Einheit übergeben werden, der er angehörte. Und im Todesfall wurde der Pass den Angehörigen zugestellt. Die umfangreichen Eintragungen im Wehrpass erlauben es mir nun, über die
Kriegserlebnisse der Brüder zu berichten:
Josef war seit Anfang Februar 1939 im aktiven Wehrdienst beim 10. Artillerie-Regiment 28 Schweidnitz/ Schlesien als Kanonier im Einsatz. Im August wurde ihm für den Ernteeinsatz Heimaturlaub
genehmigt, bekam aber bald Mitteilung, dass er in das 7. Artillerie-Regiment 253 verlegt werde und am 29.8.1939 „zum besonderen Einsatz, zur Sicherung der deutschen Westgrenze“ (Eintragung im
Wehrpass) zu erscheinen habe. Mit ihm wurde der Wallach „Edith“, ein Fuchs mit Blesse, und zwei weitere Arbeitspferde von Heymers und Mathweis Höfen in Sallinghausen eingezogen. Am Montagmorgen,
28.8., war in Calle bei Meschede für sämtliche Pferde aus den Ämtern Eslohe und Serkenrode die Pferdemusterung durch die
„Aushebungs- und Schätzungskommission“. Die Wehrmacht zahlte für Edith 1.150 Reichsmark Entschädigung und ließ das Tier zur Sammelstelle nach Hamm transportieren.
Der Bruder Wilhelm wurde Mitte Dezember 1939 eingezogen, kam nach Münster zum Wehrkreis-Ersatzdepot VI und wurde nach drei Tagen zum 5. Infanterie-Regiment 193 und ab 6.2.1940 an das neu
aufgestellte Infanterie-Regiment 516 überwiesen. Er war dort gemäß seiner Grundausbildung als Schütze im Einsatz und wurde am 1.4.1940 zum Gefreiten befördert. Wilhelms Feldbriefe beginnen stets
mit Angabe des jeweiligen Standorts und dem Datum. Deshalb wissen wir nun, dass er im Februar 1941 in Derenburg im Harz und bis zum Einsatz an die Westfront in Bergen, Landkreis Celle in
Niedersachsen, war.
Sie kannten nur ihre Heimat – doch nun überschreiten sie mit fragwürdigen Absichten die Grenze zum Westen
Am 10. Mai 1940 begann die deutsche Westoffensive, an der Josef von Anfang an mit seinem Artillerie-Truppenteil beteiligt ist. Die deutschen Verbände griffen die neutralen Niederlande an,
die so in das Kriegsgeschehen mit einbezogen wurden. Schon am ersten Angriffstag erreichte die deutsche Armee mit schnellen Panzerverbänden die Ijsselmeer-Stellung sowie die
Peel-Stellung im Süden der Niederlande, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. In zehn Tagen gelingt der Durchbruch zum Ärmelkanal (Auszug aus Josefs Wehrpass: Schlacht bei Maastricht,
Übergang über die Maas, Durchbruch über den Albertkanal, Verfolgungskämpfe in Ostbelgien, Einnahme von Namur, Wegnahme der Forts von Lüttich und Namur) Dann weitere zehn Tage Schlacht in Flandern
und im Artois (Kämpfe um die Stellungsfront von St. Amand, Schlacht an der Schelde, Einnahme von Lille, die nordfranzösische Stadt an der belgischen Grenze, Kämpfe in Westflandern). Anfang Juni
wird Frankreich überrollt und Josef findet „Verwendung im westlichen Operationsgebiet“ (Abwehrkämpfe an der Aisne, Erstürmung der Höhen von Rilly, die Besetzung Frankreichs).
Wilhelms Infanterie-Regiment 516 beteiligt sich erst einige Tage später an der Westoffensive. Am 20. Mai schreibt er den Eltern: „.. kann euch mitteilen, dass wir am vergangenen Donnerstag
(16.5.) von Bergen fortgezogen sind und mit der Bahn bis Aachen gebracht wurden. Von da marschierten wir bis Holland. Wir können uns hier noch was zum Essen kaufen. Die Bevölkerung ist recht
freundlich. Morgen geht es nach Belgien zu..“. Dann beginnt der Vormarsch durch Hollands Süden und Belgien nach Nordfrankreich. Die Auflistung der Gefechte und Schlachten ähnelt der im Wehrpass
seines Bruders Josef. Wilhelm schreibt: „Im Felde, 7.6.1940: Wir liegen nun in Frankreich, und zwar schon bald 8 Tage lang auf einer Stelle. Mit dem Feinde haben wir noch keine Berührung gehabt.
Was wir bis jetzt in Frankreich angetroffen haben, war verlassen…“ und „Im Felde, 16.6.1940: Gestern haben wir die Marne überschritten. Wir haben bis jetzt noch keine Franzosen gesehen. In
den letzten Tagen haben wir Gewaltmärsche gemacht, täglich 50-60 km. Heute wurden wieder Fußkranke zum Lazarett zurück geschickt. Wir übrigen fahren jetzt alle auf Fahrzeugen, da man sich sonst
doch tot läuft.“
Am 22. Juni 1940 wurde der deutsch-französische Waffenstillstand unterzeichnet. Den Sieg im Westen bezahlte die Wehrmacht mit 27.000 toten und 18.000 vermissten Soldaten. Über 110.000 deutsche
Soldaten wurden verwundet. Frankreich verlor während der Kämpfe etwa 90.000 Soldaten. Es sind nackte Zahlen, doch dahinter stehen tragische Einzelschicksale und unbeschreibliches Leid der
betroffenen Familien.
Wilhelm wechselt in dieser Zeit zur 9. Kompanie des Inf.-Regt. 516, die in den kommenden Monaten als Teil der Besatzungstruppe in Frankreich zum Küstenschutz an der französischen Kanalküste eingesetzt ist. In dieser Zeit wird kein Heimaturlaub genehmigt, doch es geht ihm gut, wie er zu berichten weiß:
„Frankreich 6.9.1940: ..Sonst im Westen nichts Neues! Vor einigen Tagen sind wir mit einem Auto nach Paris gefahren. Es ist da doch viel Schönes zu sehen.“ und am 15.9.1940: „Ich fühle mich wie Gott in Frankreich. Liege seit einigen Tagen allein auf der Stube und habe augenblicklich ein ganz gemütliches Leben, da ich für 14 Tage dem Alten sein Pferdebursche bin.“
Am 10.4.1941 wird Wilhelm mit seinem Regiment aus Frankreich abgezogen und nach Polen verlegt. Eine Woche später (17.4.) ist er wegen einer Verstauchung und Bluterguss am rechten Fußgelenk in einem Orts-Lazarett in Behandlung und gilt für vier Wochen als dienstuntauglich. Am 26.5.1941 meldet er sich mit einem Feldpostbrief aus Polen:
„Ich bin seit einigen Tagen wieder in der Kompanie, bin wieder im Stall und habe auch mein Pferd wieder bekommen. Wir liegen hier auf einem Truppenübungsplatz, welcher die reinste Sandwüste darstellt. Voraussichtlich bleiben wir aber nicht mehr ganz lange hier liegen. Die Bevölkerung ist hier sehr arm. Die Leute haben bald nur Lumpen am Leibe und ihre Häuser sind aus Holz gebaut und zum großen Teil mit Stroh gedeckt.“
Das hässliche Gesicht des Krieges:
Bilder vom Einmarsch in Frankreich und der zerstörten nordfranzösischen Stadt Lille (nahe der Grenze zu Belgien)
Was verheimlichen die Feldpostbriefe?
In Josefs Wehrpass ist für die Zeit bis zum 21. Juni 1941 „Verwendung im Heimatkriegsgebiet“ vermerkt. Seine Feldpostbriefe geben darüber kaum Auskunft. Es war ihm bewusst, dass sog.
Feldpostprüfstellen stichprobenartig den Briefverkehr zwischen der Front und Heimat öffneten und dass Äußerungen, die den „Verdacht der Spionage, Sabotage und Zersetzung“ zum Inhalt haben, Gefahr
für Leib und Leben des Briefschreibers bedeuten. Mitteilung für die Truppe: „Jeder ist für das, was er in seinen Briefen schreibt, verantwortlich, der Soldat ganz besonders.“
Deshalb beschränken sich seine Briefinhalte auf private Aussagen. Er teilt den sorgenvollen Eltern daheim mit, dass es ihm gut geht und beschwichtigt das, was ihm eigentlich zu schaffen macht.
Die Sorge um das Weitergehen auf dem Hof nimmt einen großen Anteil am Inhalt der Briefe, denn auch die Brüder Alfons und Otto sind 1941 als Soldaten im Feld. Bei der Arbeit zuhause auf dem Hof
unterstützten die Eltern die Schwester Maria, der noch minderjährige Bruder Alfred sowie zwei polnische Zwangsarbeiter.
Josef schreibt am 3.2.1941: „Wilhelm schrieb mir die vorigen Tage. Es scheint ihm ja auch noch recht gut zu gehen. Ich hoffe, dass ich drei oder vier Wochen Urlaub bekomme. Amtlich ist das aber
noch nicht…“ und am 25.2.1941: „Ich hoffe, dass es im Frühjahr längeren Urlaub gibt. Es haben sich 12-15 Mann gemeldet. Ich auch. Alfons bekommt doch auch sicher mal bald Urlaub. Habt ihr mal
gehört, ob ihr den Polen behaltet?“ Dann am 10.4.1941: „Mit Urlaub könnt ihr mit mir vorläufig nicht rechnen. Wenn es geht, versucht es mit Otto mal. Wir werden wohl gelegentlich umziehen. Wo wir
dann hinkommen, weiß ich nicht. Auf jeden Fall braucht ihr euch um mich keine Sorgen machen…“
Zwischenzeitlich ist auch Josef mit seinem Artillerie-Regiment aus Frankreich abgezogen und an die Ostgrenze verlegt. Am 25.5.1941 schreibt er: „ Was ich hier am meisten vermisse, ist ein kühles Glas Bier. Wo sind Alfons, Wilhelm und Otto jetzt? Haben sie noch ihre alten Anschriften? Man ist nun ja recht gespannt, was uns die nächste Zukunft bringt.“
Am 11.6.1941: „Habe vorgestern dankend eure beiden Päckchen erhalten. Der Kuchen schmeckte ganz vorzüglich, der Schinken war auch noch gut. Die Butter war allerdings nicht mehr
tadellos, aber doch noch zu essen. Ich glaube nicht, dass das Butterschicken noch Zweck hat. Urlaub gibt es immer noch keinen. Soll auch wohl vorläufig so bleiben. Ich glaube, wir haben jetzt
wieder Ruhe vor dem Sturm. Das kann und darf ja nicht mehr lange dauern. An ein Kriegsende glaubt aber noch niemand in diesem Jahr.“
Ahnend schreibt Josef am 20.6.1941: „Neues kann ich euch ja nicht schreiben. Macht euch um mich keine Sorge. Es ist nun gut möglich, dass ihr mal länger keine Post bekommt. Das ist kein Grund zur
Beunruhigung. Diesen Sommer werdet ihr wohl kaum mit uns rechnen können. Nun alles Gute und Gott befohlen, euer Sohn und Bruder Josef.“
Ob er ahnte, was ihnen noch bevorstand? Längst bestand ein Plan der unter größter Geheimhaltung seit Monaten vorbereitet war. Dessen Umsetzung stand kurz bevor.
Der Anfang vom Ende
Das Unternehmen „Barbarossa“
Adolf Hitler gab bereits im Juli 1940 dem Oberkommando der Wehrmacht seinen Entschluss bekannt und befahl die militärische Vorbereitung für einen Überfall auf die Sowjetunion. Der am
24.8.1939 geschlossene deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt sollte in voller Absicht gebrochen werden. Die Geheimhaltung des Planes, der als „Unternehmen Barbarossa“ bezeichnet wurde, gelang. Am
Morgen des 22. Juni 1941 begann der Vormarsch von 121 deutschen Divisionen auf der 2130 km breiten Ostfront zwischen der Ostsee und dem Schwarzem Meer. Die Invasionsstreitmacht bestand aus
drei Millionen (!) deutschen Soldaten und weitere 600.000 Soldaten aus Italien, Ungarn, Finnland, Rumänien und der Slowakei.
Am Tag des Überfalls (22.6.41) drängt es Wilhelm bereits am frühen Morgen trotz großer Eile, eine Nachricht in die Heimat zu schicken: „Wir haben jetzt genau fünf Uhr und befinden uns jetzt
bereits 1 ¾ Stunden im Kriege mit den Russen. Es ist jetzt bei uns nicht so, wie vor einem Jahre in Frankreich, wo wir hinter all den Anderen herliefen. Wir sind jetzt die Ersten. Ich bin beim
Tross (der rückwärtige Teil der Militäreinheit, der Unterstützungsaufgaben, insbesondere im Versorgungs- und Transportbereich hatte) und so mit einigen Kilometern vom Schuss entfernt. Was wir
hier augenblicklich vom Kampf mitbekommen ist nur, dass wir die Maschinengewehre und die Artillerie schießen hören. Ein russischer Flieger hat sich bis jetzt noch nicht sehen lassen und auch die
gegnerische Artillerie lässt noch nichts von sich hören… Also Gott befohlen, alles wird schon gut gehen!“
Das 8. Artellerie-Regiment 253, dem Josef angehörte, kämpfte an der Nordwestfront und konnte in den ersten Wochen große Geländegewinne machen.
Davon berichtet Josef in seinem letzten Feldpostbrief, den er am 24.6.1941 nach Hause schrieb: „Wie dort hoffentlich so auch hier alles gut. Befinden uns in Litauen. Die Front liegt gut 30 km vor
uns. Es geht jetzt so schnell vorwärts, dass wir mit unseren Pferden nicht mitkommen können. Russische Flieger haben uns noch wenig beschäftigt. Zweimal musste die Infanterie eingreifen und
wurden von derselben mit Karabinern abgeschossen. Gestern beobachteten wir einen Luftkampf, bei welchem zwei russische Bomber abgeschossen wurden. Jetzt muss ich für heute schließen. Wir setzen
uns wieder in Marsch. Braucht euch um mich keine Sorgen zu machen. Schickt mir auf keinen Fall vorläufig noch Butter. Alles Gute und beste Grüße. Entschuldigt die Schrift. Josef“
„Ein jeder hat doch sein bisschen Leben nur einmal“
Es ist Montag, der 30. Juni 1941. Josef befindet sich mit seiner Einheit in der Nähe des Ortes Naszlany in Litauen. Er ist Pferdehalter seines Hauptmanns Heinrich Heller und Meldereiter. Gegen
9:00 Uhr beginnt ein Gefecht mit den Russen. Während Josef mit den Pferden hinter einer Baumgruppe Deckung nimmt, geht sein Hauptmann vor. Dann, gut eine halbe Stunde später, fällt ein
vereinzelter Schuss. Er schlägt etwa zehn Meter neben Josef ein, der an einem dicken Baum sitzt. Ein Granatsplitter von Haselnussgröße durchschlägt seinen Stahlhelm. Josef stirbt! Mit ihm
finden sein und des Hauptmanns Pferd sowie drei weitere Pferde den Tod. Die Kameraden finden ihn, die Zügel noch fest in der Hand.
Am folgenden Tag erfüllt Heinrich Heller seine traurige Pflicht und übermittelt den ahnungslosen Eltern die furchtbare Nachricht vom Tod ihres ältesten Sohnes. Er schildert den Hergang und weiß,
dass es keine tröstenden Worte in dieser Situation geben kann. Er findet nur diese: „Seine Kameraden haben ihn an den Weg von Paraciai nach Naszlany gebettet und sein Grab ist sauber und
ordentlich. Es ist mit seinem Namen auf einem Kreuz bezeichnet. Er starb in treuer Pflichterfüllung für Führer und Volk im Kampf gegen den Bolschewismus. Die Batterie wird ihren Sohn nicht
vergessen. In stolzer Trauer mit Ihnen: Dr. Heller, Hauptmann und Batteriechef“
Die schlimme Nachricht macht in der Heimat schnell die Runde, da der Bauer Kaspar Droste aus Obersalwey von seinem Sohn, dem Gefreiten Anton Droste, einen Feldpostbrief erhielt, datiert am
1.7.1941: „Mir geht es noch ganz gut. Aber Josef Feldmann von Sallinghausen ist gestern für das Vaterland gefallen. Sonst gibt es hier nicht viel mehr. Nun recht viele Grüße von Anton.“ Josef war
der erste Gefallene im Amt Eslohe. Die Kunde von seinem Tod ist erst der traurige Anfang. In den folgenden Monaten mehren sich die Meldungen über gefallene und vermisste Söhne. Trauer und
Entsetzen bestimmt das Leben der Daheimgebliebenen und die Ungewissheit, über das was noch geschehen würde.
"Im Frieden begraben die Söhne ihre Väter, im Kriege der Vater die Söhne"
(Herodot, um 450 v.Chr., griechischer Geschichtsschreiber)
Am 20. Juli 1941 findet mein Großvater die Kraft, Briefe an seine Söhne Wilhelm, Alfons und Otto zu schreiben. Er muss ihnen vom Tode des ältesten Bruders berichten. Den Inhalt der Briefe kennen wir nicht, doch er wird versucht haben, über den herben Verlust tröstende Worte zu finden.
Wilhelm erreicht dieser Brief mit großer Verspätung und ein weiterer Brief des Vaters vom 27.7., in dem dieser einen Totenzettel von Josef beifügt, kommt dem zuvor. Wilhelm liest diesen nun unvorbereitet und ist erschüttert von der Nachricht. Aus dem Text seines Schreibens, welches er dann am 6. August verfasste, wird deutlich, wie fest er seinen Christenglauben verinnerlicht hatte. Es steht mir nicht zu, seine Gefühle und Gedanken, die Wilhelm in dieser für ihn schweren Stunde in seiner eigenen Weise in Worte kleidete zu verbreiten und so gebe ich diese auch nicht preis. Nur so viel: Seine für den heutigen Betrachter fast kindlich anmutende Betrachtung der Situation hat ihm geholfen, seine Trauer zu bewältigen: „… denn so kann der Tod für einen guten Menschen kein Verlust sondern nur eine Erlösung sein.“
Sein Brief endet mit einer Darstellung der Situation um die Eltern zu beruhigen: „Meinetwegen braucht ihr euch keine Sorgen zu machen, denn wir liegen schon seit einer Woche hier auf einer Stelle
in Ruhe. Und wenn wir mal wieder marschieren, dann werde ich wieder auf meiner Wasserkarre sitzen, vor welcher ich jetzt drei Pferde habe. Ganz ohne sie kommen wir mit unseren Fahrzeugen nicht
aus. Meistens sind wir noch hinter der Artillerie. Hoffentlich nimmt der ganze Krieg bald sein Ende.“
Während sich Wilhelm mit seinem Regiment auf dem südöstlichen Vormarsch in der Ukraine befindet, lassen die Eltern nicht nach, für ihre Söhne Heimaturlaub zu beantragen. Als Begründung wird der
dringende Einsatz für die Erntearbeiten auf dem Hof genannt. Doch ihre Bemühungen scheitern regelmäßig. Die Anträge an das Wehrbezirkskommando wurden abgelehnt und erst später wurde der Grund
bekannt: Es bedurfte immer einer Bestätigung der Notwendigkeit zum Ernteurlaub durch den vor Ort zuständigen Kreisbauernführer, namens Kersting. Dieser wohnte im Nachbarort Wenholthausen und war
ein glühender Nazi, der seine Entscheidungen rigoros von der Parteizugehörigkeit des Antragstellers abhängig machte.
Und so musste Wilhelm in seinem Schreiben vom 7.9.1941 nach Hause berichten, dass ein Unteroffizier von der Schreibstube ihm mitge- teilt habe, dass ein Gesuch, welches über das
Wehrbezirkskommando gegangen sei, wieder einmal abgelehnt sei. Resignierend schreibt er: „Ich glaube, es wird wohl das Beste sein, wenn ihr die Sache ruhen lasst bis mal wieder bessere Aussichten
sind.“
Nach Josefs Tod gehen bald die Gedanken der Eltern in die ungewisse Zukunft. Wer wird jetzt den Hof einmal übernehmen? Wilhelm war nun ihr ältester Sohn und hatte alle Voraussetzungen, ein
tüchtiger Bauer auf Feldmanns Hof zu sein. Deshalb trugen Sie ihm ihre Gedanken dazu in einem Brief vor und erhielten Antwort (7.9.1941): „Zu der Sache mit dem zuhause bleiben möchte ich
mitteilen, dass es mir lieb und recht ist, Josefs Stelle, die dieser einmal einnehmen sollte, an seiner anzunehmen. Ich möchte euch aber bitten, nicht zu glauben, weil ich nun der älteste bin, es
mir geben zu müssen. Handelt so wie es euch am liebsten ist.“
Dann folgte sein letzter Brief vom 21.9.1941: „… mir kommt es noch mal so recht zum Bewusstsein, was es für mich heißt, dass uns unser Josef gefallen ist….“ „Wir befinden uns im raschen Vormarsch. Hoffentlich nimmt der Krieg bald sein Ende. Otto kann froh sein, dass er nicht in Russland ist. In der Hoffnung, dass es euch, - nein auch mir- noch ganz gut geht, grüßt euch alle herzlich euer Sohn und Bruder Wilhelm.“
Eine Hoffnung wird begraben
Die deutsche Wehrmacht „feierte“ noch im September 1941 große Erfolge bei der Besetzung der russischen Gebiete. Die Eroberung von Schlüsselburg am Ufer des Ladogasees, die Anfang September
gelang, führte zu einer dauerhaften Blockade Leningrads und zum Hunger- und Kältetod von über einer Million Zivilisten. Hitler ordnete die vollständige Inbesitznahme der Ukraine an und verlegte
eine weitere Panzertruppe nach Süden, die bei der Isolierung Leningrads mithelfen sollte. Ende September endete die Kesselschlacht um Kiew mit dem bisher größten Erfolg der Wehrmacht mit der
Gefangennahme von 660.000 Rotarmisten und die Erbeutung von tausenden Geschützen. Im deutschen Reich wuchs inzwischen eine trügerische Euphorie und führte zu Hitlers Befehl auf den Angriff auf
Moskau.
Der wachsende Widerstand der russischen Armee wurde unterschätzt und so bildeten sich Kampfhandlung auf breiter Front. Die russischen Luftstreitkräfte drangen immer wieder in die von den
Deutschen eroberten Gebiete und erzwangen höchste Wachsamkeit der Regimenter, so auch im Einsatzgebiet in der westlichen Ukraine.
Hier fand ein todbringender Bombenangriff der Russen am 25.9.1941 statt. Wilhelm und viele seiner Kameraden wurden dabei je aus dem Leben gerissen.
Erst nach einigen harten Kampftagen konnte der Oberleutnant der Infanterie eine Mitteilung an die ahnungslosen Eltern schreiben: „29.9.1941: Ihr lieber Sohn hat nach einem russischen
Bombenangriff sein Leben fürs Vaterland gelassen. Wir verlieren einen pflichtbewussten, tüchtigen Soldaten und guten Kameraden mit ihm. Möchten sie Trost finden in dem Bewusstsein, dass ihr Sohn
sein Leben eingesetzt hat, für die Größe und den Bestand von Führer, Volk und Reich. Neben anderen Kameraden wurde ihr Sohn in Konstantinograd beigesetzt.“
Der Brief wird Anfang Oktober hier im Hause zugestellt worden sein. Welche Gedanken gingen Großvater durch den Kopf, als er den Umschlag öffnete und er erfahren musste, dass seine größten
Befürchtungen wahr geworden sind? Man kann sich in diese Situation nicht hineinversetzen, man kann sie nicht begreifen. Unvorstellbar, welche Reaktion diese schlimme Nachricht in einem Vater und
einer Mutter auslösen. Tiefe Trauer allemal, vielleicht Wut und Entsetzen? Mein Großvater ging aus dem Haus, hinüber zur Scheune, stieg hinauf auf den Kornbalken, welcher über dem Bansenraum
liegt. Nachbarn hörten ihn, wie er laut und voller Inbrunst das Gott preisende Lied sang: „Großer Gott, wir loben dich“
Und eine Mutter, die ihre Söhne über Monate nicht mehr zu Gesicht bekommen hat und nun weiß, wie unumkehrbar das Schicksal ist. Wie kann sie trauern wenn diese in der Ferne in fremder Erde
liegen? Sie kann nicht vor deren Gräbern stehen und ihren Tod beweinen. Großmutters Namenspatronin Maria, die „schmerzhafte Mutter“, die als Mutter dargestellt wird, wie sie den Leichnam ihres
Sohnes Jesu in den Armen hält.
Vielleicht hat Großmutter, die Zeit ihres Lebens eine Verehrerin Mariens war, sich in ihrem Schmerz in ihr wiedergefunden und daraus Kraft geschöpft. 1953 beauftragte sie den Bildhauer Hoppe in Sögtrop für die neu errichtete Dorfkapelle eine Pieta zu fertigen. Diese stiftete sie von ihrem mühsam ersparten Geld.
Der totale Krieg hat ein hässliches Gesicht
Mit der sowjetischen Winteroffensive 1941/42 nahm das Kriegsgeschehen nie gekannte Dimensionen an und es bewahrheitete sich hunderttausendfach, was Wilhelm in einem seiner letzten Briefe schrieb:
„Es ist gut, dass uns der liebe Gott den Himmel geschaffen hat."
Jetzt war der Bruder Alfons noch im Felde, irgendwo in Russland. Der jüngste, Alfred, wurde eingezogen und nach Russland ins Feuer geschickt. Otto, mein Vater, war seit Monaten in Norwegen, wo
acht deutsche Divisionen stationiert waren. Die Mitteilungen vom Tod der Brüder hatten ihn damals schwer getroffen. Tagelang war er nicht ansprechbar gewesen, besonders nach Wilhelms Tod, zu dem
er immer ein besonders enges Verhältnis hatte. Aber er war in diesem Land, in dem seine Kompanie die Stellung hielt relativ ungefährdet. Nachdem nun zwei Brüder während ihres Kriegseinsatzes ums
Leben kamen und zwei weitere noch in Russland kämpften, hatte das Gesuch der Eltern doch Erfolg und mein Vater durfte die Heimreise antreten. Aus Gründen, die sich meinem Vater auch später nicht
erschlossen, verpasste dieser das vorgesehene Schiff. Das sollte ihn durch den Skagerrak von der Südküste Norwegens, vorbei an der Nordküste Jütlands nach Deutschland bringen. Für die Verspätung
handelte Vater sich dafür vom Vorgesetzten eine Rüge ein. Gleichzeitig überbrachte dieser aber die Mitteilung, dass er dem nassen Tod entgangen sei. Das Schiff kam nie im Heimathafen an. Es war
nach einem Torpedoangriff untergegangen und es gab keine Überlebenden. Vater ging bei einem anderen Schiff an Bord und kam wohlbehalten in der Heimat an.
Bruder Alfons war später in Kriegsgefangenschaft, kam aber schon im Juni 1945, kurz nach Kriegsende, in die Heimat zurück. Der jüngste, Alfred, wurde von den Russen nach Lettland in ein Gefangenenlager bei Riga verschleppt. Erst spät, im September 1947, wurde er dort freigelassen und durfte die Heimreise antreten. Am Haltepunkt Wenne angekommen, war es nicht mehr weit zum Elternhaus. Zerlumpt und verlaust, abgemagert bis auf die Knochen, schleppte er sich über den Weg unterm Rehenberg in Richtung Sallinghausen. Rudi Mathweis, vom Nachbarhof, kam ihm da durch Zufall entgegen und wollte gerade an ihm vorbeigehen. Alfred sprach in an: „Rudi, erkennst du mich nicht?“ Er hatte ihn nicht erkannt!
Mit der Vergangenheit abschließen können
Es hat Monate gedauert, Alfreds geschwächten Körper wieder aufzubauen. Zeitlebens blieb er körperlich anfällig und wenig belastbar. Und wie es um seine Seele bestellt ist, nach schlimmen
Kriegserlebnissen und ertragenen Demütigungen in der Gefangenschaft? Das bleibt wie bei vielen Soldaten, die den Krieg überlebten, ein Geheimnis. Nur wenige hatten später die Kraft, ihre Lippen
zu öffnen und sich mit Worten Luft zu verschaffen. Sie sahen, indem sie erzählten, eine Therapie, mit den traumatischen Erlebnissen irgendwie abschließen zu können.
Großvater errichtete nach dem Krieg ein Kreuz im Estenberg, unweit der Stelle, von wo Wilhelm einst in seinem Baum gesessen und ins Tal geschaut hatte. Eine Tafel erinnerte an die im Krieg
gefallenen Brüder. In seinem Testament verfügte er 1957, dass das Gedächtnis an die Söhne durch Pflege des Kreuzes dauernd wachzuhalten sei und dieses dem Hoferben und kommenden Generationen eine
heilige Verpflichtung sein solle. Doch das alte Kreuz am Estenberg ist längst verwittert und ein Fichtenwald versperrt heute den freien Blick ins Tal.
Nach meiner Geburt 1954 war es der Wunsch der Familie, dem neuen Stammhalter zwei Namen zu geben; die der gefallenen Brüder Wilhelm und Josef. Nun habe ich auf meine Art mit diesem Bericht zur
Erinnerung an meine Namenspaten beigetragen, sozusagen ein neues Kreuz für sie errichtet.