Nach dem siebenjährigen Krieg [1756-1763] kam auch im Sauerland mit der Verstärkung des Handels bescheidener Wohlstand auf. Der Historiker Hömberg schrieb: „Vervielfachung der Produktion,
günstigere Gestaltung der Arbeits- und Absatzverhältnisse, Entschuldung der Höfe, Ablösung der Grundrenten, Verbesserung der Lebenshaltung bei Hygiene, Gesundheit, Medizin, kennzeichnen diese
Epoche als die glücklichste der letzten 400 Jahre.“ Das Mittelalter schien überwunden.
Der Wald spielte in den wirtschaftlichen Erwägungen bis dahin nur eine geringe Rolle. Es war kein Kulturwald wie wir ihn heute kennen. Bedeutsam wurde er nach Auflösung der Marken. Aus
Markengenossen wurden Eigentümer der Wälder. In dieser Zeit kam im Siegerland die Eisenindustrie auf. Für die Verhüttung des Erzes wurde Holzkohle und Pottasche benötigt. In den Wäldern des
Sauerlandes wurden überall Kohlenmeiler angelegt und die so gewonnene Holzkohle ins Siegerland verkauft. Das brachte bares Geld und die Bauern konnten neue Häuser bauen. Alte Holzhäuser wurden
durch Massivbauten ersetzt. Viele der heute noch vorhandenen alten Fachwerk-Bauernhäuser stammen aus dieser Zeit, so auch das auf Nurks Hof in Sallinghausen.
Auch der "Ackerwirt" Jürgen Nurk aus Sallinghausen und seine Ehefrau Sybille nutzten diese wirtschaftlich günstige Zeit und errichteten im Jahr 1779 ein neues, größeres Haus. Das alte hatte ausgedient und wurde den Ansprüchen der Menschen, die in dieser neuen Zeitepoche lebten und wirtschafteten, nicht mehr gerecht. Vielleicht war auch der bauliche Zustand so desolat, dass es bittere Notwendigkeit wurde, einen Neubau zu planen und tatsächlich auch in die Tat umzusetzen.
Wenn auch das Haus des Bauern dessen Stolz auf sein Eigentum in Größe und Ausstattung zeigt, letztlich spielten aber die Zweckmäßigkeit und der Raumbedarf die entscheidende Rolle. Und so wurde
auch das neue Haus auf Nurks Hof zwar geräumiger, aber dennoch in bescheidener Art und Weise errichtet. Wir kennen das Haus nicht in seiner ursprünglichen Art, da es in späterer Zeit durch
Sturmschaden großen Schaden erlitten hatte und in großen Teilen neu aufgerichtet werden musste. Doch üppiger Giebelschmuck ist nicht zu vermuten, dennoch wird der Zimmermann in einem der
tragenden Querbalken die Erbauer und den Tag des Hausrichtens durch eine Inschrift festgehalten haben. In der Art und Weise der Bauform spiegelte sich auch in diesem Haus die alte
westfälische Baukunst wieder. Doch es gab eine Weiterentwicklung der Bauart, die im neuen Nurks Wohnhaus Berücksichtigung fand: Das Vierständerhaus. Dessen Bauweise stellte eine komfortablere
Weiterentwicklung des Zweiständerhauses dar. Die Konstruktion beruhte auf vier Ständerreihen in Längsrichtung. Zwei Reihen waren Teil der Deelenwände und zwei der Außenwände, die als Stützwände
eine tragende Funktion hatten.
Der Standort gab die Baustoffe. Örtliche Handwerker gestalteten es nach übernommener Sitte in Fachwerk, mit Teerfarben geschwärzte Balken und weiß gekälkten Gefachen. Das Ganze stützt sich auf niedrigen Grundmauern aus Grauwacke, die aus den nahe gelegenen Steinbrüchen in harter Arbeit gelöst wurde. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts deckte man die Dächer hierzulande mit einer etwa 20 cm dicken Lage Roggenstroh, die alle zehn Jahre wegen Verwitterung erneuert werden musste. Auch Nurks neues Haus wurde zu Anfang mit Stroh eingedeckt.
So oder ähnlich muss man sich Nurks Wohnhaus kurz nach seiner Errichtung im Jahr 1779 vorstellen. Die oberen Gefache sind mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Bretterschalung versehen gewesen
und das Dach war anfänglich mit Roggenstroh gedeckt. Ein Vergleich mit dem 1790, also wenig später im Ort errichteten Haus auf Mathweis Hof, ist angebracht. Dieses besteht heute noch in
dieser Bauart, da es keinen Veränderungen im Laufe der Zeit unterworfen war.
Wie sinnvoll und zweckmäßig die westfälischen Bauernhäuser errichtet waren, beurteilt ein Zeuge dieser Zeit. Johann Nepomuk von Schwerz bereist in Auftrag der preußischen Regierung das
Westfalenland und beschreibt 1836: „Die landwirtschaftliche Bauart in Westfalen hat ihr Eigentümliches, und obgleich Menschen und Tiere unter einem Dache, und, so zu sagen, in einer großen Stube
beieinander wohnen, so ist es doch nicht ganz so arg, als man es manchmal geschildert hat, und noch weniger wahr, dass desfalls auch Schweine und Menschen aus einem Topfe speisen. Das Ganze der
Einrichtung hat vielmehr viel Zweckmäßiges und ist mit den geringsten Kosten verbunden. / Das ganze Gebäude, welches Wohnung, Ställe, Scheune, Dreschtenne und Kornboden in sich erfasst, ist
geräumig, hoch gestochen, durchaus luftig und gesund“.
Nurks Wohnhaus war ursprünglich nur als rechteckiges Haus (circa 12 m breit und 15 m lang) gebaut, das alles unter einem Dach vereinigte. Haupteingang war das große, vierteilige Deelentor. Es war
gleichzeitig die Einfahrt in die Tenne oder Deele für den mit Zugochsen oder Pferden gezogenen Erntewagen. Dieser füllte dann den Raum voll aus, sodass die Zugtiere ausgespannt und durch die
dahinter liegende Küche, am Herdfeuer vorbei, linksseitig hinaus in den Hinterhof geführt werden mussten.
Neben dem Deelentor befanden sich vermutlich an beiden Seiten Stalltüren. Zur rechten Seite standen das Großvieh, also die Pferde und Kühe in einem geräumigeren, tiefen Stall. Sie waren in einer Reihe mit Ketten angebunden und standen zur Tenne hin, von wo sie auch gefüttert wurden. Links waren das Jungvieh, die Kälber oder Geiß und Schafe in einem engeren Stall untergebracht. Auch diese wurden von der Deele aus gefüttert und ihr Mist wurde aus kleinen Türen aus den Ställen hinaus auf den Misthof geworfen, der sich damals vermutlich auf der linken Gebäudeseite befand.
Das Haus war dank der Vierständer-Bauweise im Wohnbereich zweistöckig, jedoch mit relativ kleinen Räumen angelegt, wobei besonders in den Räumen im zweiten Stockwerk nur eine für heutige Maßstäbe
geringe Deckenhöhe, selten über zwei Meter, eingehalten wurde. Das hatte bautechnische Gründe, da die oberen Räume nur über eine Empore oberhalb der Deele begehbar waren und diese durfte nicht zu
hoch angelegt sein, musste man doch Heu und Stroh von dort aus über eine Luke in den darüber liegenden Dachraum, alles in Handarbeit, schaffen. Es bestand darüber hinaus für den einfachen Bauern
kein Bedürfnis nach größeren und höheren Räumen, denn die Menschen in früherer Zeit maßen eine geringere Körpergröße wie die heutigen.
Das neue Haus war für die Erbauer eine Errungenschaft, eine erhebliche Verbesserung der Wohnkultur und eine Erleichterung bei der täglichen Arbeit. Man darf nicht vergessen, dass damals das Haus
und die Hofstelle Lebensmittelpunkt der darin lebenden und arbeitenden Menschen war.
Seitdem war es den kommenden Generationen eine ständige Aufgabe ihr Heim zu erhalten, aber es auch nach ihren sich ändernden Bedürfnissen anzupassen. Doch nichts ist für ewig gebaut und die Zeit
hinterlässt ihre Spuren. Irgendwann stehen die Bewohner von Nurks Haus vor einer Entscheidung, so wie sie damals Jürgen und Sybille treffen mussten: Erhalt oder Neubau – Herz oder Verstand. Es
gab und gibt keine andere Alternative.
Sie berichtete von einem Ereignis: „..Da dasselbe am 8. Juli 1828 durch einen Sturmwind wurde niedergeschlagen, so haben wir Eheleute Joseph Wüllner und Anna Maria Schulte dasselbe wieder
aufbauen lassen“
Bei einem Gewittersturm, der am 8 Juli 1828 aufzog, wurde das Wohnhaus von einer Böe so stark erfasst, dass das gesamte Strohdach nebst Sparren angehoben und in den anliegenden Grashof und Garten
daneben gesetzt wurde. Wahrscheinlich stand eine Dachluke frei, sodass der Wind dort eindringen und so das Dach anheben konnte. In der Folge stürzten beide Giebelwände ein, da sie keinen Halt
mehr fanden. Josef Wüllner, so berichtet Heinrich Heymer in seinen Aufzeichnungen, befand sich kurz zuvor vor dem Deelentore wo er „auf einem Karrenstell“ ruhte und die bedrohliche Wetterlage
beobachtete. Der aufkommende heftige Niederschlag muss ihn genötigt haben auf die Deele zurückzuweichen und das Tor zu schließen. So hatte er das Glück, nicht von den auf die Pferdekarre
herabstürzenden Massen erschlagen zu werden.
Der Schaden muss beträchtlich gewesen sein, da beide Giebelwände völlig zerstört waren, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass der untere schwere Querbalken, an dem beim Wiederaufbau die vom
Ereignis berichtende Schrift angebracht wurde, völlig ersetzt werden musste.
Um 1750 entstanden viele Feuer- oder Brandkassen, auch Feuersozietäten genannt. Diese Versicherungen, sofern Wüllner diese überhaupt abgeschlossen hatte, entschädigten nur im Brandfall. Eine
umfassende Gebäudeversicherung, die auch Sturmschäden abdeckte, war damals nicht üblich. Doch wovon sollten die Kosten des Wiederaufrichtens bezahlt werden? Ein finanzieller Ruin musste
abgewendet werden. Zur Hilfe traten die Verwandten der Ehefrau in Recklinghausen. Sie hatten die finanziellen Möglichkeiten aufgrund des ungleich großen Gutes und gaben Kredit, den jedoch erst
die nächste Generation auf dem Hofe tilgen konnte.
Ich stehe gemeinsam mit meiner Familie und einigen Nachbarn an diesem Spätnachmittag im August 2014 auf der Dorfstraße und schaue gebannt und angespannt herüber zu „meinem Haus“. Zehn Tage vorbereitende Arbeiten einer Abrissfirma liegen hinter uns. Jetzt kommt der Bagger zum Einsatz und er wird in wenigen Stunden das dem Erdboden gleich machen, was seit Jahrzehnten mein Zuhause, mein Elternhaus, ein Lebensmittelpunkt war.
Mühelos pflückt das Gerät die Dachrinne herunter, hebt die vom Eternitschiefer befreite Schalung hoch und mit einem Ruck klafft ein riesiges Loch im einst so schützenden Dach des Hauses. Eine
gute Angriffsfläche für den Greifer, der wie mit Daumen und Zeigefinger sich am vorderen Fachwerkgiebel zu schaffen macht.
Es ist, - es war -, das Gesicht unseres Hauses, mit schmuckem Fachwerk in schwarz-weiß, einst in westfälischer Tradition errichtet. Die Giebelspitze geziert mit dem Auge Gottes und der Jahreszahl
1779, darunter der Spruchbalken dessen Text die Obhut Gottes erbittet:
„GOTT BEHÜTE DISSES (dieses) HAUS FÜR (vor) FEUR (Feuer) STURM UND DONNER SLAG (schlag) UND ALLES WAS IHM SCHADEN MAG USW“.
Ein weiterer Balken erzählt die Geschichte dieses Hauses. Wie viele Menschen sah ich, die vor unserem Hause Halt machten und zu entziffern versuchten:
„1779 DEN 21tn Juni, HABEN DIE EH(e)LEUTE GEORGIUS(Georg) NORcH(Nurck) U.M.CIBILA GIRSE (und mit Sybille Girse) DISSES (dieses) HAUS AUFRIcHTEN LASEN (lassen) DA DASSELBE AM 8TN Juli 1828
DURcH EINEN STURMWIND WURDE NIDERGESLAGEN (niedergeschlagen) SO HABEN WIER (wir) EH(e)LEUTE JOSEPH WÜLLNER U.ANNA MARIA ScHULTE DAS SELBE WIDER AUFBAUEN LASEN (lassen)“.
Noch vor wenigen Jahren hat ein Anstrich dieses Gesicht wieder aufgefrischt. Die alte Dame hatte noch einmal Ruge aufgelegt, wohl wissend, dass Alter und Zerfall nicht aufzuhalten ist. Und im
Sommer, wenn bunte Blumen in den Kästen blühten, zeigte sie sich „mit Blumen im Haar“ von ihrer schönsten Seite.
Doch schon greift der Bagger ins Giebeldreieck, erfasst es und löst das, was seit langer Zeit dort oben thront vorsichtig vom darunter liegenden Gemäuer. Nach allem Bedacht und reiflichen
Gedanken schnürt es mir nun die Kehle zu und mein Herz wird schwer. Ich gebe es zu, dass ich innerlich in mich hinein weine und nun betroffen ins Leere schaue. Und ich rede mir ein: „Warum bist
du jetzt so sentimental? Ein Haus ist doch nur ein Gebäude das Menschen zum Wohnen und Unterkunft dient und das Schutz vor Witterung und den Unbilden der Natur bietet. Mehr nicht, aber auch nicht
weniger.“
Doch es ist mehr! Ich weiß und spüre es und es kommen mir die mit Poesie umwobenen Zeilen in den Sinn, die ich einst gelesen habe. Die „Wortkünstlerin“ Carola Matthiesen, in Eslohe geboren und
aufgewachsen, berichtet von ihrem Elternhaus:
„Über meinen Wurzeln breitete sich ein stattliches Bauernhaus mit ausladendem Dach, unter dem Generationen kamen und gingen. Sie füllten das Haus mit ihren ersten Schreien, und ihre letzten
Seufzer hingen noch im mächtigen Gebälk, wenn man sie längst hinaus auf den Gottesacker getragen hatte“. Und sie zitiert die weisen Worte ihres Großvaters: „Jeder Mensch braucht seinen festen
Platz im Leben; wichtig ist, dass er seine Wurzeln kennt und zu ihnen zurückkehren kann.“ Und meine Mutter tat stets den Ausspruch: „Ich hänge an diesem alten Haus“.
Am Zuhause hängen, dem „Wohlfühlort“, der Zufluchtsstätte, ist wohl ein Teil unserer Mentalität. Ich kann das nachempfinden. Das Nomadenleben passt wohl nicht zum westfälischen, bodenständigen
Menschen. Diese Erkenntnis gewinne ich aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte meines Dorfes, meines Hofes und meines, gerade endenden Hauses. Menschen die hier aufwuchsen und den Weg ins
ferne unbekannte Amerika antraten, dort gar ein erfolgreiches Leben führten, nahmen auch in späten Jahren regen Anteil an den Geschehnissen in ihrer alten Heimat. Sie führten rege Korrespondenz
und nahmen sogar die an ihren Kräften zehrende lange Überfahrt über den Atlantik für einen Besuch in Kauf. Andere trieb das Heimweh zurück, dort wo sie ihren Wurzeln nahe waren.
Früher war der Hof Arbeitsstätte zum Broterwerb und Wohnstätte im gleichen Maße. Das war so in vielen Generationen, ohne dass sich bahnbrechende Veränderungen ergaben. Erst der seit Jahrzehnten
andauernde Strukturwandel in der Landwirtschaft, von äußeren gesellschaftlichen Einflüssen herbeigeführt, hat das Landleben nachhaltig geprägt und verändert. Damit einhergehend haben sich auch
die Bedürfnisse der Bewohner in unserem Haus gewandelt, wie auch unsere Art und Weise zu denken und zu handeln. Auch unser Heim hat sich stetig, nach und nach, unseren veränderten Bedürfnissen
angepasst. Die Wohnkultur wird geprägt von einer sich verändernden Sichtweise: Umweltschutz und Energiesparen sind heute maßgebende Kriterien. Aber das kann ein altes Haus nicht mehr
leisten.
Einen Tag später, Stück für Stück, stirbt unser Haus unter Ächzen und Beben. Der hintere Giebel fällt mit lautem Krachen und nachdem sich die Staubwolken lichten wird offensichtlich, wie schlecht
und verbraucht die Bausubstanz war. Das Gebälk aus Eichenholz erweist sich als mürbe und auf Dauer nicht mehr tragfähig und Gedanken an eine Wiederverwendung schwinden schnell. Nurks altes
Bauernhaus steht nicht mehr. Dort wo es vor wenigen Stunden noch so vertraut aufragte, bedeckt nun ein riesiger Schutthaufen den Boden. Es wird Platz geschaffen für etwas Neues, denn alles
Irdische hat einen Anfang und findet einst sein Ende.
Es entstand eine neue Wohnstätte, an diesem Ort und an dieser Stelle. Es mögen unter einem neuen Dach wieder Generationen ihr Zuhause, ihre Heimat finden. Und dieses Haus wird für seine Bewohner
wiederum mehr als nur ein Gebäude sein. Auch unsere Vorfahren sprachen von ihrem „Hus“ (altdeutsch), was von der ursprünglichen Bedeutung und sprachgeschichtlich nichts anderes wie „das
Bedeckende“ oder das „Schützende“ bedeutete. „Gott behüte dieses Haus …..“