Dieser Aufsatz wird von mir im PDF-Dateiformat zum Download und Ausdruck zur Verfügung gestellt. Eine Veröffentlichung bzw. Weitergabe an Dritte und/ oder Verwendung zu gewerblichen Zwecken ist nur nach ausdrücklicher Genehmigung des Urhebers erlaubt:
(C) Wilhelm Feldmann
Immer wieder, aber heute eher selten, ist sie zu Gast auf den Grün- und Ackerflächen der Bauern im Dorf: Die durchziehende Schafherde eines Wanderschäfers, die außerhalb der Ernte- und Weidezeit der Rinder, sich mit dem spärlichen Bewuchs zufriedengibt. Nur ein – zwei - oder drei Stunden später zieht sie weiter. Die genügsamen Tiere fressen auch das, was das Rindvieh verschmähte und hinterlassen dabei ihren wertvollen Dung; Nahrung für die Pflanzen. Die Bauern sehen das nicht ungern; die Herde ist willkommen und der dazugehörige Schäfer auch.
Wie Boten aus einer vergangenen Zeit erscheint dieser mit seinem Gewand und dem Stab. Seine Kleidung schützt vor Regen und Kälte, aber auch vor zu viel Sonne. Mit dem langen Stab, auf den sich der Schäfer stützt, befindet sich eine kleine Schippe. Damit kann er giftige Pflanzen ausstechen und mit dem Haken wird er behutsam einzelne Tiere einfangen. Sein wichtigstes Handwerkszeug aber ist seine jahrelange Erfahrung und das Gespür für die Tiere, vor allem seine Leidenschaft für einen faszinierenden Beruf.
Hubert Kotthoff, Schäfer wie im Bilderbuch
Ein typischer Vertreter seiner Zunft war über Jahrzehnte lang der Schäfer Hubert Kotthoff aus Niedersalwey. Heute hat er seinen Beruf an den Nagel gehängt. Er musste sich von seiner Herde trennen, widerwillig aber letztlich einsehend, dass sein Alter (Jahrgang 1933) ihm Grenzen gesetzt hatte. Alleine ging er durchs Leben, für eine Lebenspartnerin war kein Platz. In der Rolle des Einsamen fühlte er sich wohl, bediente er auch damit ein Klischee, welches man den Schäfern seit jeher zusprach: Gerade wegen der ihn erfüllenden, aber weitgehend einsamen Tätigkeit, war Hubert Kotthoff den Neuigkeiten und Schicksalen seiner Mitmenschen sehr zugewandt. Man könnte auch sagen, dass seine natürliche Neugier sehr ausgeprägt war. So pflegte er, wo es möglich war, nur zu gerne ein Schwätzchen mit den Bauern und anderen Zeitgenossen, die ihm gerade über den Weg liefen. Ja, er kam viel herum in seinem langen Berufsleben und könnte auch viel erzählen. Aber da steht regelmäßig ein Schweigen im Raum, wenn er neugierige Fragen gestellt bekommt. Seinem vielsagenden Grinsen im von Sonne und Wind geerbten Gesicht, den Blick abwendend und auf seine Herde gerichtet, folgte selten eine Antwort, dann aber wortkarg und meistens verbunden mit einer Gegenfrage. Sein Wissen lag wie in „Abrahams Schoß“, - wie beim Pastor im Beichtstuhl.
Mal Weggefährten, mal Einzelgänger
In den letzten Jahren hatte er seine Kreise immer enger gezogen. Das war einmal anders gewesen, als seine Füße ihn noch in weite Ferne tragen konnten, denn hier in seiner Heimat konnte der Schnee schon im Oktober knietief liegen. Nur in den Niederungen, in den Tälern von Ruhr und Lenne, fanden dann seine Tiere noch ihr Futter. Eine „sichere Bank“ war, wenn Hubert Kotthoff mit seiner Schafherde westwärts in den Rhein-Sieg-Kreis zog. Die Gegend um die Gemeinde Much und die Stadt Lohmar, das heutige Naturschutzgebiet Naafbachtal, war ein bevorzugtes und schneearmes Weidegebiet. Für diese Wanderschaft tat sich Hubert Kotthoff dann eine Zeit lang mit der Herde eines anderen, erfahrenen Hirten zusammen.
Es war Anton Gerke, Schäfer aus Meinkenbracht. Es war wohl in den fünfziger, vielleicht noch in den sechziger Jahren, wo die beiden gemeinsam mit ihren Schafen gen Westen, ins gut einhundert Kilometer entfernt liegende „gelobte Land“ gezogen sind. „Da trafen wir uns mit acht Mann und vier Herden immer bei Gummersbach im gleichen Gasthof zum Übernachten. Es gab einen zünftigen Skat bis in die Nacht“, schwärmte Anton Gerke später im Rückblick auf diese, für ihn glückliche Zeit.
Eine Begegnung mit dem Schäfer Anton Gerke
Da steht er am Koppelzaun, gestützt auf einem Sitzstock, sein Antlitz unter einer breiten Hutkrempe verborgen: Der Schäfer Anton Gerke blickt in die Linse einer Kamera. Auch seine Hunde sind aufmerksam geworden, ebenso wie die Herde Schafe, die sich im Hintergrund aufhält.
Wie hat sie ihn nur herumgekriegt, diesen Sechzigjährigen, der immer noch Wind und Wetter strotzt und seiner Berufung nachgeht?
Es war Zufall, dass sich ihre Wege Mitte der siebziger Jahre kreuzten. Die junge Fotografin Barbara Anneser (1954 geboren in Berghausen bei Schmallenberg) beschrieb später ihre, obwohl flüchtige Begegnung mit Anton Gerke, mit romantisierenden Worten:
„Als ich dem Alten damals begegnete, hütete er an den Abhängen des Schieferberges seine Schafe. Es muss vom ewigen Alleinsein mit den friedfertigen Schafen etwas übergehen von Seelenruhe und stiller Zufriedenheit auf den Hirten, wie das enge Verwachsen sein mit der weiten stillen Natur zum Sinnen und Grübeln reizt, zum Erforschen ihrer geheimsten Wunderkräfte und Zeichen. Nicht ohne Grund schreibt man daher gerade dem Schäfer die Gabe des zweiten Gesichts zu und hält seine einfache und überzeugende Art das Leben zu betrachten für die glücklichste aller Philosophien. Vielbeinige Sommerherden ziehen über die Hochheide, kommen von den abgegrasten Rheinauen bis auf die grünen Grasflächen des Sauerlandes, haben manchen Regenschauer, schwere Gewitter auf ihren Fahrten erlebt. Poetisch wird es in seiner Runde, manches Stündchen kann man mit ihm verplaudern, bringt man ihn erst zum Sprechen.“
Keine Wunderkräfte, aber stille Zufriedenheit
Nein, Wunderkräfte hatte Anton Gerke nicht, aber eine Menge Gespür und die Sensibilität für die Zeichen, die von der Natur kommen.
Er war ein Mensch, so wie es früher viele waren, die den Großteil ihrer Arbeit auf den Feldern, Wiesen und Wäldern verbrachten; die Bauern, Köhler, Holzknechte, Jäger und Hirten.
Ihnen, die schweigend ihr Tagwerk leisteten, wurde oft nachgesagt, dass sie schwierig im Umgang, aber selten Schwätzer oder Aufschneider waren. Lauschen und Zuhören, erstmal eine Meinung bilden, bevor man Herz und Mund dem Gegenüber schenkt.
Da waren sich die Wanderschäfer Hubert Kotthoff und Anton Gerke sehr ähnlich. Ihr Altersunterschied von zwanzig Jahren hatte in dieser Hinsicht keine Bedeutung.
Ein Blick zurück
Anton Gerke stammte aus dem kleinen Dorf Dormecke. Dort am 02.07.1911 als nachgeborener Sohn auf die Welt gekommen, hatte er sich schon früh dem Landleben verschrieben. Der Umgang mit Tieren lag ihm im Blut und schon früh, aus der Schulzeit entlassen, hütete er einige Jahre die Schafe bei Dünnebacke in Marpe. Es folgten weitere Jahre in Niedersalwey, wo er sich schließlich 1934 selbständig machte und in Dormecke eine kleine Schafherde sein Eigen nannte.
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs musste er wie viele seiner männlichen Zeitgenossen den Fahneneid schwören. Frankreich lernte er auf kriegerische Weise kennen; nicht als willkommener Gast. Wo es ihn danach unfreiwillig geführt hat und was er in den Kriegsjahren bis 1945 persönlich erleben und ertragen musste, darüber hat er sich Zeit seines Lebens in Schweigen gehüllt. Wenigstens kam er körperlich unversehrt und zu Fuß aus der Kriegsgefangenschaft in seine Heimat zurück.
War es Zufall, Vorsehung oder Kalkül, als er der zukünftigen Erbin des Assmann-Hofes in Meinkenbracht über den Weg lief?
Cilli Deimel war die älteste von drei Schwestern auf diesem männerlosen Hof. Der Vater Joseph Deimel war im Dezember 1925, gerade einmal 39 Jahre alt, an einer Lungenentzündung gestorben und ließ seine Ehefrau Anna, geborene Kayser aus Obersalwey mit den drei kleinen Kindern, die jüngste erst drei Monate, zurück.
Eine harte Zeit begann für die Witwe, die jedoch der Mithilfe ihres Schwagers Otto Deimel und manchem hilfreichen Nachbarn, sicher sein konnte.
Arg gelitten hatte ganz Meinkenbracht während der letzten Kriegstage im April 1945. Das Dorf war zwischen die Fronten gekommen. Tagelang lag es unter Beschuss der feindlichen Artillerie. Bange Tage und Nächte hatten die Dorfbewohner erleben müssen, die in ihren Kellern, in Erdbunkern und in einem stillgelegten Bergwerksschacht Schutz suchten. Obwohl mehrere Häuser in Brand gerieten und teilweise bis auf die Grundmauern niederbrannten, wurde Assmanns Hof kaum beschädigt. Da grenzte es an ein Wunder, dass kein Dorfbewohner zu Schaden kam.
Mit offenen Armen wurde Anton Gerke auf dem Hof empfangen. Für Mutter Anna Deimel brachte das Schicksal nach zwanzig Jahren Witwenschaft endlich wieder einen Mann auf den Hof, auf dem es mittlerweile an allem mangelte. Die schweren Jahre schienen jetzt überwunden. Zuversicht brach sich Bahn. Die Zukunft konnte nur besser werden für alle Bewohner des Hofes und so kamen alle drei Schwestern binnen zwei Jahren „unter die Haube“.
Den Verlobungen folgten die Hochzeitsfeiern. In der St. Nikolaus Kirche in Meinkenbracht wurden Anton Gerke und Cilli Deimel am 08.10.1947 getraut.
Es folgten arbeitsreiche Jahre; Bemühungen, den Hof wieder wirtschaftlich auf die Beine zu stellen. Da nun eigene Weideflächen vorhanden waren, konnte Anton Gerke seine Schwarzkopf-Schafherde, die zum Teil in der Kriegszeit verloren gegangen war, mit nach Meinkenbracht nehmen und dessen Bestand neu aufbauen. 1952 baute er hier einen neuen Schafstall und begann neben der Bewirtschaftung des Hofes mit der Wanderschäferei. Im November 1954 legte er vor dem Prüfungsausschuss der Landwirtschaftskammer mit Erfolg die Prüfung zum Schäfermeister ab.
Anton und Cilli Gerke begründeten in dieser Zeit eine für lange Jahre gepflegte Tradition, die bei den Einwohnern des Dorfes immer guten Anklang fand. In jedem November schlachteten sie einen Hammel und luden zum Essen in das Gasthaus Wiethoff ein. Damit bedankten sie sich dafür, dass die mittlerweile auf 250 Tiere angewachsenen Schafherde auf den Wiesen und Feldern der Nachbarn umherziehen durfte.
Bald aber kam auch wieder anderes Leben auf Gerken Hof. Es ertönte das Lachen und Lärmen ihrer Kinder, fünf an der Zahl. So gingen die Jahre ins Land, auch schicksalsschwere.
Sinnen und Grübeln über das Geschehene
Nach Grübeln und Sinnen war ihm, der oft allein in weiter Flur stand, hatte er doch auch einen Grund dafür, jetzt wo er das Alter spürte. Anton Gerke ahnte, dass er sein Schäferdasein nicht viele Jahre mehr fristen konnte und sich der Tag näherte, an dem er sich von seiner Herde trennen würde. Er wusste es: Die Schafhaltung, die er einst auf Assmanns Hof in Meinkenbracht aufgebaut, hatte keine Zukunft.
Josef, der älteste Sohn, sollte einmal in seine Fußstapfen treten. Er hatte dieses Gen eines Schäfers von ihm geerbt, doch das Schicksal wollte es anders. Nur eine Handvoll Jahre zuvor, an einem Sommertag im Jahre 1971, war Josef mit der Herde in Grevenstein unterwegs. Er ging voran und die Tiere folgten. Beim Überqueren der Straße raste ein Auto mit hoher Geschwindigkeit heran und Josef sprang noch im letzten Moment über die Leitplanke. Wie ein Wunder wurden keine Tiere verletzt, da der Wagen gerade noch zu stehen kam. Doch beim Sprung verletzte sich Josef und wurde nach Arnsberg ins Krankenhaus gebracht. Dort stellte man fest, dass sein Oberschenkel gebrochen war. Die Familie stellte sich darauf ein, dass Josef einige Monate benötigen würde, bis er seine Arbeit auf dem Hof wieder aufnehmen kann. Doch es kam ganz anders: Josef, die Hoffnung seiner Eltern, verstarb am 7. Juni 1971 unerwartet an einer Lungenembolie.
Schon bald trennte sich der Vater aus gesundheitlichen Gründen von seiner Schafherde. Anton Gerke starb am 4. Juli 1987, zwei Tage nach seinem 76ten Geburtstag. Wie beliebt und bekannt der Verstorbene war, zeigt die Tatsache, dass die Westfalenpost nach seinem Tod berichtete und ihn als „aufrechten Sauerländer von echtem Schrot und Korn“ würdigte.