Achtlos fahren täglich ungezählte Fahrzeuge über die Landstraße 541, durchs Wennetal von der Bundesstraße 55 kommend, in Richtung Wenholthausen. Wenige hundert Meter hinter der Wennebrücke befindet sich rechts am Wege eine Mauer, die dahinter liegende, beim Bahnbau angeschüttete Erdmassen hält und stützt. Über diesen Damm erstreckten sich die stählernen Gleise der ehemaligen Bahnstrecke Wennemen - Fredeburg. Doch heute befindet sich dort ein Radweg, der Teil der sog. "Nordschleife des Sauerland-Radringes" ist.
Keinem Autofahrer und keinem Radler ist bewusst, dass an diesem Ort einst Menschen gelebt und gearbeitet haben. Das war die Familie Bauerdick, über die ich bereits im August 1992 im damaligen "Homerkurier" geschrieben habe. Mein Bericht wurde möglich durch die freundliche Unterstützung der Nachkommen Bauerdicks in Echthausen, dem Ehepaar Hugo und Hedwig Bauerdick und durch die Aufzeichnungen meines Nachbarn Heinrich Heymer.
Im Jahre 1771 wurde Wilhelm Burdick gt. Schulte Erbe des stattlichen Hofes Wulstern bei Remblinghausen. Seit Vater Caspar Burdick war zuvor gestorben. Ein weiteres Jahr später ging Wilhelm die
Ehe mit Margarethe Kotthoff gt. Lammers aus Vellinghausen ein. Nach vier Jahren wurde ihr erstes Kind, die Tochter Maria Margarethe in Wulstern geboren. Doch sie verstarb nach wenigen Tagen. Das
Licht der Welt erblickte 1779 Gertrudis. Es ist die letzte Eintragung über diesen Zweig der Burdicks Familie aus Wulstern in den Remblinghauser Kirchenbüchern.
Der Heimatforscher Lauber vermutete, dass die Eheleute weggezogen sind. Wilhelms jüngerer Bruder Heinrich übernahm den Hof in Wulstern.
Was war geschehen? Was veranlasste die Eheleute auf die Erbschaft in Wulstern zu Gunsten des Bruders zu verzichten ? Darüber schweigen sich die alten Bücher aus. Die wahren Gründe werden wir
niemals erfahren. Dennoch kann über den Verbleib der Familie Wilhelm Burdick, nachfolgend Bauerdick genannt, hier berichtet werden.
Im schönen Tal der Wenne
Unmittelbar an der Landstraße 541 weist heute nichts mehr darauf hin, dass hier vor über zwei Jahrhunderten eine Siedlung gegründet wurde. Hier hat im Laufe der Zeit Mensch und Natur
gründliche Arbeit verrichtet, um die Spuren der Vergangenheit zu beseitigen.
Es wird um 1780 gewesen sein. Die Eheleute Wilhelm und Margarethe Bauerdick ließen sich mit ihrem Töchterchen hier nieder um, sicher auch mit Hilfe einer Abfindung, die der Bruder zahlte, eine
neue Existenz an den Ufern des Wenneflusses zu gründen. Dabei kam ihnen Theodor Mathweis aus dem Nachbarort Sallinghausen zur Hilfe, der ihnen sein Land zum Kauf anbot. Später wurde dieser durch
Heirat mit der Schwester Maria Margarethe mit Bauerdicks verschwägert.
Wilhelm Bauerdick schuf sich „an den Ossenkämpen“, so hieß in alter Zeit das Gelände an der Wenne, ein für heutige Verhältnisse kleines Anwesen, welches den emsigen Bewohnern aber ein
bescheidenes Auskommen bescherte.
Das Wohnhaus stand unmittelbar, giebelseits an der Landstraße. Auch der Hauseingang war zur Straße gelegen. Längsseits des Weges fließt der Wennefluß; wenige Meter oberhalb ihres Laufes vereinigt
er sich mit dem Salweybach. Hangaufwärts, unmittelbar hinter dem Wohnhaus legten Bauerdicks einen Obsthof an, der weiter oberhalb in die Weiden und Felder überging, auf denen sie eine
kleine Landwirtschaft betrieben. Bauerdicks Besitz umfasste 2,36.96 Hektar. Von Gut Wenne pachteten sie noch zweieinhalb Morgen hinzu.
Standortbedingt fühlten sich die Bewohner mit Wenholthausen verbunden. Dort war ihre Schule, gingen sie zur Kirche und beerdigten ihre Toten. Aber sie pflegten ebenso den Kontakt zu ihren
nächsten Nachbarn. Das kleine Schulten Anwesen, "Andreas Haus" genannt, wenige Meter entfernt in Richtung Wenholthausen liegend, besteht
noch heute. Wrede hieß der letzte Besitzer. Weiter flussaufwärts, am Salweybach gelegen, befindet sich die Ortschaft Sallinghausen. Auch wenn in früherer Zeit Hochwasser oft den Weg dorthin
erschwerte (die Brücke über die Wenne wurde erst im Jahre 1854 erbaut), waren hier Bauerdick und seine Familie oft und gern gesehene Zeitgenossen, auch weil sie ihren Lebensunterhalt dort wie auf
Gut Wenne als Tagelöhner aufbesserten. Sie waren auch Schäfer bei „Kleffmanns in der Meßmecke“, einem Hof, der um 1900 aufgegeben wurde und den es heute nicht mehr gibt.
Der letzte Eigentümer der Siedlung, Josef Bauerdick, hatte das Schreinerhandwerk erlernt und betrieb auf seinem Anwesen eine kleine Tischlerei. Die Bewohner der umliegenden Ortschaften Buemke,
Meßmecke, Gut Wenne, Wenholthausen und Sallinghausen schätzten ihn als Handwerker und zählten deshalb zu seinen Stammkunden. Das belegt sein gut geführtes Rechnungsbuch. Auftragsgemäß stellte er
die notwendigsten Dinge des täglichen Landlebens her: Tisch und Stuhl, ein- oder zweischläfrige Bettstellen, Wäscheschrank, Futterkiste und in Eile auch Särge in allen Größen für die letzte
Ruhestätte. Seinen nicht selten schlecht betuchten Kunden räumte er bereitwillig Ratenzahlung ein.
Fünf Generationen namens Bauerdick lebten an der Wenne, Kinder erblickten hier das Licht der Welt, Greise beschlossen dort ihr Leben, Freud und Leid wurden dort erlebt, bis eines Tages Josef
Bauerdick eine für sich und seine vielköpfige Familie einschneidende Entscheidung treffen musste.
Es war die Zeit des technischen Aufbruchs. Die Dampfrösser eroberten nun auch das Sauerland. Die Ruhrtalbahn nach Freienohl sowie die Eisenbahnstrecke nach Finnentrop und Altenhundem waren lange
fertig gestellt und in Betrieb gegangen, da forderten auch die weniger zentral gelegenen Orte des oberen Sauerlandes den Anschluss an die öffentlichen Verkehrsnetze. So wurden die Nebenstrecken
Finnentrop- Eslohe- Wenholthausen- Wennemen und Wenholthausen- Fredeburg- Schmallenberg in die Planungen aufgenommen. Das geschah in den Jahren 1905 bis 1910.
Bauerdicks Anwesen befand sich genau auf der Streckenführung der geplanten Bahnlinie Wenholthausen nach Fredeburg. Ein Umgehen der Siedlung war nur unter größten technischen Schwierigkeiten
möglich, da hartes Felsgestein den Weg versperrte. So bot der Eisenbahn-Fiskus dem Josef Bauerdick eine respektable Abfindung wegen Heimatverlust an.
Die Entscheidung zur Aufgabe muss ihm bestimmt nicht leicht gefallen sein, war es ihm doch bewusst, wie schwer sich seine Vorfahren um den Erhalt des Anwesens bemüht hatten. Josef Bauerdick war
zudem sehr mit diesem Fleckchen Erde verwurzelt. Letztlich traf er, auch auf Zureden seiner Frau und zum Wohle seines Sohnes Kaspar den Entschluss, dem Angebot zuzustimmen. Am 9. Dezember 1908
einigte er sich mit der Bahndirektion Elberfeld. Sein Anwesen wechselte für insgesamt 13.175 Reichsmark Entschädigung den Besitzer. Für damalige Verhältnisse war das eine gute Ausgangsbasis für
eine neue Existenzgründung. Er schrieb in sein Tagebuch: "1908, den 9. Dezember, habe ich mich mit der Bahndirektion Elberfeld geeinigt, mein Haus nebst 16 ar 88 qm und für Wege Entschädigung
13,5 Mark Entschädigung für jedes ar. Was weiter erforderlich ist zur Bahn erhalte ich 50 Mark. "
Der Sohn Kaspar befand sich derzeit auf dem Hof Heymer in Sallinghausen in der Lehre, um den Beruf des Landwirtes zu erlernen. Nicht nur deshalb lag es den Eltern am Herzen, vom erzielten
Abfindungsbetrag ein kleines landwirtschaftliches Anwesen wieder zu erwerben.
Die Suche danach hatte schon bald Erfolg. Josef Bauerdick brachte in Erfahrung, dass in Echthausen bei Wickede "ein Gütchen" (Text: Heinrich Heymer) von 35 Morgen mit zum Teil neuen massiven Gebäuden zum Verkauf stand. Es stellte sich dann heraus, dass er dieses Gut recht preisgünstig erwerben konnte, was er dann auch tat. Alsdann verkaufte er alle übrigen von der Bahn nicht erworbenen Grundstücke, das meiste an den Nachbarn Ignatz Schulte. Sogar die Gebäude wurden zum Abbruch nach Fischers in Niedereslohe gegeben.
Am 3. August 1909 zog die Familie für immer nach Echthausen (siehe Eintragung in sein Tagebuch: "1909, den 3. August, sind wir nach Echthausen."), wo die Nachkommen noch heute, jedoch nicht mehr von der Landwirtschaft leben. Mit mehreren Pferdegespannen, die alte Nachbarn zur Verfügung stellten, wurde das gesamt Hab und Gut der Familie in die neue Heimat überführt. Mit den Eheleuten gingen sieben Kinder und der fast achtzigjährige Großvater mit ins Ruhrtal.
Es ist nicht schwer zu erahnen, welche Mühen die Familie auf sich genommen hatte, das neue Eigentum zu übernehmen und nach den eigenen Vorstellungen herzurichten. Der Viehbestand musste
aufgestockt werden; bisher besaßen sie nur zwei Treibkühe. Wiesen und Felder wurden kultiviert, drainiert und erstmals bestellt. Umzäunungen mussten erneuert werden und ganz wichtig: Kontakte zu
neuen Nachbarn mussten geknüpft werden. Schließlich waren sie dort „Zukümmlinge“ oder auch „Buiterlinge“ genannt.
Josef Bauerdick hat sich in Echthausen nie so richtig heimisch gefühlt. Er hatte manchmal furchtbares Heimweh nach der alten Heimstätte. Wenn er es mal gar nicht aushielt, setzte er sich in
Wickede in den Zug, stieg in Wennemen um und fuhr bis zum Haltepunkt Wenne. Dort, wo einst sein Haus stand, war jetzt ein Damm aufgeschüttet, auf dem sich die stählernen Gleise der Bahn
erstreckten. Nur seine Obstbäume, seine Weiden und Felder, lagen noch wie früher im Tageslicht. Nachdem er Zwiesprache mit diesen gehalten hatte, fuhr er mit dem nächsten Zug wieder zurück,
ohne mit Jemanden gesprochen zu haben. Doch fast alljährlich war er auf dem Reister Markt anzutreffen, besuchte ab und an alte Nachbarn, um mit ihnen über die gute alte Zeit zu sprechen, die
bekanntlich in der Erinnerung immer besser war, als die Gegenwart es ist.
Noch lange kamen die Nachkommen der Bauerdicks an die Wenne um die Stätte ihrer Vorfahren kennen zu lernen und in Erinnerung zu halten. Doch nichts ist mehr von dem zu sehen, was einst einmal
war.
Ich fand bei meiner Spurensuche Anfang der neunziger Jahre nur einen umgestürzten, halb vermoderten Obstbaum, inmitten eines dunklen Fichtenwaldes, der nun alles umschließt, was früher mit Gras und Getreide bewachsen war.