Als der Krieg ging und der Friede Kam


Erinnerungen meiner Mutter, Gisela Feldmann, an ihr Pflichtjahr auf dem Hof Heymer in Sallinghausen

Dorothea Haselkamp gab ihrem Roman den gleichnamigen Titel. Im Sommer 1993 erschien dieser in mehreren Ausgaben im Landwirtschaftlichen Wochenblatt. Meine Mutter, Gisela Feldmann, hat mit großem Interesse diesen Roman gelesen. Das erinnerte sie an ihre eigene Zeit, den Erlebnissen in den Jahren 1944 bis 1946 in Sallinghausen.

Auch Frau Anna Heymer (* 27.2.1910 + 11.1.1995), unsere Nachbarin, bewegte der Roman in gleicher Weise. Bereits im hohen Alter und von einer Krankheit geschwächt, hegte sie den Wunsch, dass die eigenen Erlebnisse nicht in Vergessenheit geraten und für die Nachwelt erhalten bleiben. Sie selbst sah sich dazu nicht mehr in der Lage und so bat sie meine Mutter wiederholt und irgendwie eindringlich, die Erlebnisse in den letzten Kriegsmonaten, beim Zusammenbruch und die schwierige Zeit danach aufzuschreiben. Meine Mutter war es ja, die bei Frau Heymer auf dem Nachbarhof im April 1944 ihr „Pflichtjahr“ begann und dort bis zum Frühjahr 1946 blieb.

Das Pflichtjahr wurde von den Nationalsozialisten eingeführt und galt für alle Frauen unter 25 Jahren. Sie waren zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft verpflichtet, damit diese auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Ohne den Nachweis über das abgeleistete Pflichtjahr konnte keine Lehre oder eine weitere Ausbildung begonnen werden.
War Frau Heymer in dieser Zeit ihre vorgesetzte Chefin, so wurde sie durch Mutters Einheirat auf dem Nachbarhof, der Eheschließung mit meinem Vater Otto Feldmann im Mai 1953, für diese eine gute und geschätzte Nachbarin.

Es ist das Jahr 1994

Ich sehe sie noch, als sei es erst gestern gewesen, wie Mutter gebückt über einen Schreibblock, in unserer Laube sitzt und ohne Unterlass ihre Erinnerungen in Worte und Sätze kleidend, niederschreibt. Zu dieser Zeit ahnen wir nicht, dass sie bald durch ein Augenleiden fast erblindet und nie wieder Papier und Stift nutzen wird.
Mutter begann ihre Aufzeichnungen mit den Worten: „Nun versuche ich, den Wunsch von Frau Heymer zu erfüllen und einigermaßen diese schreckliche Zeit lebendig werden zu lassen.“ Das besagt schon, dass es ihr wohl bewusst war, nun den wohl letzten Wunsch ihrer kranken Nachbarin an sie zu erfüllen, die dann auch wenige Monate später verstarb. Und es war ihr auch bewusst, dass sie tief in ihr eigenes Erinnerungskästchen greifen muss und dass sie darin nicht nur schöne, auch schmerzliche Dinge wiederfinden würde. Erinnerungen, die ihr Bewusstsein bereits erfolgreich verdrängt hatte und nun der Authentizität und Vollständigkeit ihrer Aufzeichnungen wegen in ihren Gedanken wieder einen Platz ausfüllen müssen.

Kindheit in Bochum

Gisela Feldmann, geb. Deichmann
Gisela Feldmann, geb. Deichmann

Meine Mutter wuchs in Bochum-Grumme, damals noch ein ländlich geprägter Stadtteil der Ruhrgebiets-stadt, auf. Der Großvater, Julius Deichmann, ge- bürtiger Soester, war dort städtischer Beamter, die Mutter Theresia, eine geborene Flock, stammte aus Nuttlar. Mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester Marlies teilte sie eine Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus. 1928 dort geboren, wurden ihre Kindheitserlebnisse stark von den Kriegs-erlebnissen, wie Bomben-nächte im Keller des Hauses, geprägt. Aber auch die propagandistischen Lehren der NSDAP, die nicht ausschließlich, aber auch durch die Zwangsmitgliedschaft im BDM (Bund deutscher Mädel) an sie herangetragen wurden, haben sie wie alle jungen Menschen in dieser Zeit beeinflusst. Dennoch herrschten im Hause Deichmann in dieser Hinsicht andere Töne vor. Sie hatte, wie wohl die überwiegende Mehrheit der Mädels, Gefallen an den Aktivitäten im BDM gefunden, waren es doch unverfängliche Freizeitangebote, wie Ausflüge, Wanderungen in freier Natur, Lagerfeuer mit Kochen und gemeinsamem Gesang, Märchen- und Theateraufführungen, Volkstanz und Sport. Durch gymnastische Schulungen sollte die Anmut der Mädchen entwickelt werden, anders wie bei den Jungen, wo es um die Förderung von Kraft, Zähigkeit und Ausdauer ging.

Familie Deichmann beim Sonntagsspaziergang
Familie Deichmann beim Sonntagsspaziergang

Aufgrund der zunehmenden Bombardierungen im Ruhrgebiet wurden die schulpflichtigen Kinder in die weniger kriegsgefährdeten deutschen Reichsgebiete verschickt. „Kinderlandverschickung“ nannte man das bereits vor dem Krieg. Da war noch der Zweck die Erholung der Stadtkinder in ländlichen Gebieten. Nun aber war es die Bedrohung durch den Luftkrieg, eine Evakuierung von Müttern und Kleinkindern, aber auch von schulpflichtigen Kindern. Mit dem Slogan „Der Führer sorgt für euch“ versuchte die NS-Propaganda auch aus dieser Notsituation durch Verwechselung von Ursache und Wirkung Kapital zu schlagen.

Schulzeit in Schneidemühl

Meine Mutter wurde im ersten Halbjahr 1943 zusammen mit einigen Schulkolleginnen nach Ostpreußen verschickt. Ihre Schule war nach Schneidemühl, heute das polnische Pila, damals eine Stadt mit 50.000 Einwohnern an der polnischen Grenze, nahe der Provinzstadt Posen, ausgelagert. Die Zugfahrt dorthin mit der Reichsbahn, mit Zwischenstopp in der Hauptstadt Berlin, musste für die gerade fünfzehn Jahre jungen Schülerinnen ein abenteuerliches Erlebnis gewesen sein. In Schneidemühl heil angekommen, wurde Mutter auf einem Gutshof untergebracht. Sie wurde dort bei der Familie Brand freundlich aufgenommen. Nach Schulschluss wurde sie in hauswirtschaftliche Arbeit unterwiesen. Dann, in den großen Ferien, wurde ihr Aufenthalt in Schneidemühl durch eine Reise in das Sauerland unterbrochen. Ihr Vater hatte eine Genehmigung erreicht, dass sie zwecks Erntehilfe zu Verwandten nach Nuttlar reisen durfte. Da es ihr ausdrücklich untersagt wurde, nach Bochum zu ihren Eltern zu reisen, fuhren diese für einige Tage ebenfalls ins Sauerland, um ihre Tochter für kurze Zeit sehen zu können. Die Schwester Marlies lebte bereits seit Monaten im sicheren Nuttlar.


Die Ferienzeit ging rasch zu Ende und so musste Mutter bald auf dem Bahnhof in Bestwig tränenreich Abschied von Freunden und Verwandten nehmen. Allein und ohne Begleitung begann eine schwierige und gefährliche Bahnreise. In Berlin angekommen, fuhr der planmäßige Anschlusszug nicht, da dieser unter Beschuss geraten und vollständig ausgebrannt war. Stunden später konnte sie einen Bummelzug besteigen, voll besetzt mit Soldanten auf dem Weg nach Osten. Es brannte nur spärliches Licht in den Abteilen und die Fenster waren verhangen, damit der Zug nicht zu einem erkennbaren Ziel feindlicher Flieger wurde. Nachts um zwei rollte er ohne Vorfälle auf dem Bahnhof in Schneidemühl ein. Völlig übermüdet, aber froh es wohlbehalten geschafft zu haben, wurde Mutter von einigen sorgenvollen Schulfreundinnen in Empfang genommen und zu ihrer Unterkunft begleitet.
Ihr Aufenthalt in den kommenden Monaten war, anders wie beim nachfolgenden Schuljahrgang, relativ sicher und unbeschwert. Im Januar 1945 wurde Schneidemühl durch die Russen überrollt und eingenommen. Das blieb meiner Mutter erspart, denn schon bald nach bestandenem Schulabschluss im Frühjahr 1944 wurde ein Sonderzug in Richtung Ruhrgebiet eingesetzt, mit dem Mutter und ihre Mitschülerinnen eine nicht gefahrlose Heimreise antreten konnten. Zu diesem Zeitpunkt war die Reichsbahn zu einem bevorzugten Ziel für Bombenangriffe geworden. So geschah es auch, dass dieser Zug kurz vor Unna stoppen und viele Kilometer zurückweichen musste. Und das zum Leidwesen der vielen jungen Menschen, die nun nach Monaten fern sein von Zuhause und nach vielen Stunden Fahrt sehnsüchtig und ungeduldig auf das Wiedersehen mit Verwandten und Freunden warteten. Grund für den Reisestopp war ein beginnender Luftangriff und die Schülerinnen, aus den Fenstern des Zuges gelehnt, konnten mit ansehen, wie bald Sperrballone aufstiegen. Diese zogen Drahtseile mit sich, um die feindlichen Piloten zu zwingen in größere Höhen zu fliegen. Dadurch beabsichtigte man deren Treffgenauigkeit zu vermindern oder gar zu verhindern. Dann endlich, doch nach Monaten die sichere Ankunft in Bochum, tränenreich vor Freude des Wiedersehens, aber oft auch, weil nahestehende Menschen nicht mehr in die Arme geschlossen werden konnten.

 

Es war eine Zeit, die uns Deutsche eigentlich nachhaltig prägen sollte, eine bittere Zeit der Erkenntnis, dass Frieden und Freiheit ein nicht zu übertreffendes Gut ist und das es zu bewahren gilt.

 

Mein ergänzender Hinweis

Lange Zeit hat meine Mutter darauf bestanden, dass ich ihren Bericht nicht öffentlich machen solle. Davon hat sie später abgelassen und mir die Erlaubnis dazu erteilt. 

Das ist gut so, denn ihre Stimme ist am 26. April 2017 für immer verstummt. Sie ist nun, 89 Jahre alt, von uns gegangen. Sie ist friedlich eingeschlafen. So hatte sie es sich nach einem langen und bewegten Lebensweg gewünscht. Ihre Familie und viele Freunde und Bekannte werden sie nie vergessen. Ihre Aufzeichnungen werden dazu das Übrige tun. "Solange wir uns an einen Menschen erinnern, solange ist er nicht wirklich gestorben"


Des Umfangs wegen habe ich Mutters Bericht in einer PDF Datei im Anhang eingestellt.

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(C) Wilhelm Feldmann

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