Vom Zehenbeißen und Armkneifen


Alte Fastnachtsbräuche in Westfalen

„Lüttke, lüttke Fastenacht, wir haben gehört,

ihr habt geschlachtet,habt eine große Wurst gemacht.

Gibt uns eine, gibt uns eine, aber nicht eine ganz so kleine.

Lasst das Messer sinken bis mitten in den Schinken.

Lasst uns nicht so lange stehen, wir wollen noch ein Häuschen weitergehen.“ 

 

So oder ähnlich verhochdeutscht klingt es alljährlich auf "Weiberfastnacht" an jeder Haustüre hierzulande, wenn die Kinder bunt verkleidet allerlei Leckereien sammeln. Dieser Tag gehört seit ehedem hauptsächlich den Frauen und Kindern. Aber an den kommenden Tagen bis Aschermittwoch, dem Beginn der Fastenzeit, ist es auch den Männern nicht vorenthalten, verkleidet durch das Dorf zu gehen und von Haus zu Haus ihr Sprüchlein aufzusagen und um Wurst, Eier, Speck und anderen Leckereien zu bitten.

 

Foto oben:  Lüttke Fastenacht in Sallinghausen 1963

[von links nach rechts:] Wolfgang Kühl, Heinz Fuchs, Hubert Feldmann, Wilhelma Sapp, Brigitte Heymer (dahinter), Martin Sapp, Rolf Schulte gnt. Schmies, Cornelia Schulte gnt. Eiken, Gerhard Schulte (ihr Bruder), Elisabeth Nolte, dahinter steht unbekanntes Mädchen aus Eslohe (Freundin von Brigitte Heymer), Margarete Nolte und Helmut Schulte gnt. Schmies


 

Regional verschieden sind die Sitten, die an diesen Tagen aufleben. Doch allen gemein ist, dass die Fastenzeit von Aschermittwoch bis Karfreitag bevorstand und nun die Zeit vorher nicht ungenutzt verstreichen sollte, in ausgelassener Weise zu feiern und es sich gut ergehen zu lassen. Die vorzugsweise in den kalten Wintermonaten erfolgten Hausschlachtungen ließen damals vermuten, dass die Speisekammern und Räucherstuben gut gefüllt sind. Das lässt sich aus dem Text des Fastenachtgesangs zweifelsohne erkennen.

 

An dem Donnerstag vor Fastnacht, auf „Weiberfastenacht“,  wurde früher das Spinnen eingestellt und, wo in der letzten Spinnstube noch gearbeitet wurde, dann bei Kaffee, Butterkuchen und Schnaps gesungen und getanzt. An der oberen Lenne, so wird vor fast hundert Jahren berichtet, verkauften an diesem Tage die Weiber den "Diensten". Und hatte in Altenhundem oder Oedingen ein Mädchen noch Flachs auf dem Wocken, so wurde er angezündet und durch einen Tanz die Flamme gelöscht.

 

Aus Aberglauben soll sich in der Grafschaft Mark dann überhaupt nichts bewegt haben was rundgeht. Damit nicht irgendein Unheil Menschen, Vieh und Saat sich nähere, standen die Spinnräder still, ebenso Mühlenräder und -flügel. Es ruhten die Wagen und Karren und sogar Kaffeemühlen blieben ungedreht.

 

In den kälteren Monaten des Jahres war das Schwein fett gemästet und Allerwegen konnte man beobachten, dass Hausschlachtung war. Das geschlachtete Schwein wurde an eine Holzleiter gebunden und hing daran einige Stunden im Hof zum Abkühlen. Wen wundert es, dass manchen beim Anblick dieses guten Stückes der Schalk trieb. Trotz guter Bewachung gelang es doch oft, das Beste vom Schwein zu stibitzen. Der Sport hieß: "Lümmerken-Klauen". War den Nachbarn darin der Erfolg versagt, so gab das Fastnachtsingen oft die Möglichkeit, um ein frisches Stück vom Selbstgeschlachteten mit Gesang zu bitten. Dabei soll es schon einmal vorgekommen sein, dass sich ein Fastnachtssänger "versehentlich" in der Räucherkammer des Hausherrn wiederfand und von einem deftigen Mettwurstkrengel nicht lassen konnte.

Waren es früher selbsterzeugte Produkte vom heimischen Hof, wie Wurst, Eier, Äpfel, Nüsse und Gebäck, so hat sich in der heutigen Zeit der Supermärkte dementsprechend auch das Sammelgut geändert. In den Taschen der Kinder findet sich Kaugummi, Überraschungsei, Schokolade und auch Geld wieder, wenn sie ihre schwerbeladenen Taschen auskehren. Kaum einem der Kinder kann jedoch der ursprüngliche Grund der Fastnachtsfeier bekannt sein. 

 

Zu christlicher Zeit wollte sich das Volk für die Entbehrungen der von Aschermittwoch bis Ostern währenden Fastenzeit durch Gelage, Possen, Maskeraden, Tänze und dergleichen im Voraus schadlos halten. Ein Bericht aus den ersten Jahren unseres Jahrhunderts beschreibt, dass deshalb noch am Dienstag, dem eigentlich letzten Tage vor Beginn der Fastenzeit, die größte Ausgelassenheit in früherer Zeit zu beobachten war. "Ausschweifungen und Rohheiten während der Fastnachtstage waren nichts Seltenes und begegnen uns gleich ungehörigen Überschreitungen der Maskenfreiheit leider noch heute", so der damalige Berichterstatter. Hauptsächlich waren es die Städte mit ihrem ausgebildeten Gildewesen, in denen sich die Fastnachtsfeiern außerordentlicher Beliebtheit und Pflege erfreute. Doch auch die Landbevölkerung, der sonst weit seltener größere Vergnügungen geboten wurden, hegte sie in "ausgiebigster" Weise.

 

Wenn noch heute die Männer auf Weiberfastenacht sich hüten, Schnürschuhe anzuziehen und sich mit einem Schlips zu anzukleiden, weil an diesem Tag die Weiber die Schere schnell zur Hand haben, so ist dies nur ein Abglanz der unterschiedlichen Gebräuche, die hierzulande in früherer Zeit geläufig waren. Doch viele Spielarten des Fastnachtsbrauchs sind verlorengegangen und nicht mehr bekannt.

 

In Teilen des Sauerlandes verehrten in den Wirtshäusern die bedienenden Mägde den Stammgästen gegen ein Trinkgeld das "Fastnachtslüstchen", einen Buchsbaumstrauß mit rotseidenen Bändchen. Der "Fastnachtsgeck", eine aus Stroh gewickelte Puppe, wurde mancherorts aufgestellt und nach Beendigung der Festtage begraben. Derbe und beliebte Volksbelustigungen, wie Gänseköpfen, Hahnenschlagen, Kränzchenreiten waren bekannt.  

 

Auch in Sallinghausen gingen die Männer zum Fastnachtsingen durchs Dorf
Auch in Sallinghausen gingen die Männer zum Fastnachtsingen durchs Dorf

Doch wollen wir hier den weniger bekannten Gebräuchen gedenken und lassen den Schreiber von damals in dessen Worten berichten:

"In Marsberg reiten die Müllerknechte am ersten Fastnachtstage mit bekränzten Hüten auf Eseln, deren Köpfe gleichfalls ein Kranz umwindet, ohne Umstände in die Stuben ihrer Mahlgäste und sprechen: Hy is de Müelenknecht / dai saiket sin Recht, / geit y iäm sin Recht nit, / dan kryget y ouk ne recht Miäl ni, / hai kan kimmen, kan kammen, kan hoggen (hauen), / kan kuypen alle jungen Miäkens in de Moggen (Ärmel). Man reicht ihnen dann ein Trinkgeld und die Mädchen haben sich zu hüten, dass sie nicht in die Arme gekniffen werden.

 

 Im Sauerlande bissen an einzelnen Orten noch am Fastnachtsmontag die Frauenleute die Männer und am Fastnachtsdienstag die Männer die Frauenleute in die Zehen. Die Gebissenen, deren Schienbeine vorher auch mit einem Tannzapfen oder Strohwisch gerieben wurden, bewirten dafür mit warmen Wecken (Krabbeln) und geistigen Getränken.

 

 In Altenhunden bürsten am Montag die Mägde den Knechten die Füße und schneiden am Dienstag die Knechte den Mädchen die Socken von den Strümpfen. In Iserlohn begnügt man sich mit dem Ausziehen des Stiefels oder Schuhes, die dann ausgelöst werden müssen. In Assinghausen reicht das bloße Abwischen des Fußes oder der Fußbekleidung, während in Winterberg am ersten Fastnachtstage die Männer ihren Frauen, am zweiten die Frauen ihren Männern und die Kinder zur Erlangung von Äpfeln und Nüssen den Großeltern die Wangen mit einem Schneeball einzureiben pflegen."

 

Bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts beschütteten sich zu Fastnacht in der Grafschaft Wittgenstein die Knechte und Mägde mit Wasser. Sogar die Schulkinder eilten nach vollendetem Unterricht an den Bach und durchnässten sich gegenseitig bis auf die Haut. In Medebach war die Sitte, dass am Montag die Mädchen die Jungen und am Dienstag die Jungen die Mädchen mit Wasser begießen. Manch einer wird heute denken: Welch unvernünftiger Brauch, sich bei den Temperaturen dieser Jahreszeit so zu durchnässen. Doch man glaubte fest daran, der Begossene sei dann nicht nur im Sommer von Fliegen- und Mückenstichen befreit, sondern überhaupt gegen Unglück und Missgeschick gefeit.

 

Doch am Aschermittwoch wird die Fastnacht begraben. Am vierzigsten Werktage vor Ostern beginnt die Faste. Während deren Dauer hing früher vielerorts in den Kirchen Westfalens zwischen Schiff und Chor das sogenannte Fasten- oder Hungertuch als Sinnbild der Trauer und Buße. Er sind sehenswerte reich und kunstvoll bestickte Leinentücher in grauer oder violetter Farbe. Dieser kirchliche Brauch ist in den letzten Jahren vielerorts wieder aufgelebt. Aber wer fastet noch heute? 


Auf Fastenacht In eine Rolle schlüpfen


Es gibt Zeitgenossen, denen steht das ganze Jahr über der Ernst des Lebens im Gesicht geschrieben. Doch zu Fastenacht setzen sie sich eine rote Nase oder ein buntes Hütchen auf und sind unvermittelt in ihrer Art nicht wiederzuerkennen. Ich bin auf Weiberfastnacht geboren und meine Eltern meinten, ich würde deshalb ein echter Narr. Weit gefehlt. Auch wenn ich mich nun dieses Themas befleißige, diese Wesensart blieb mir bisher unerschlossen und ich bin wohl in dieser Hinsicht ein rechter Westfale, der sich von der Lebenslust eines Rheinländers doch merklich unterscheidet. 

Doch in meiner unmittelbaren Nachbarschaft wurde mir schon früh vor Augen geführt, dass die mir von Haus aus vererbte Ernsthaftigkeit auch im Westfalenland nicht die Regel sei. Mein Nachbar Friedhelm Schulte gnt. Schmies (geb. 17.9.1929, gest. 5.1.2010) war Zeit seines Lebens immer ein geselliger Mensch. Mir ist Friedhelm aber auch als redselig in Erinnerung geblieben, als ein Mensch, der mitteilsam war und nur zu gern frühere Erlebnisse zum Besten gab. Wie weit diese Erzählungen der Wahrheit oder seiner Fantasie entsprachen, war letztlich nicht wichtig, denn es war stets unterhaltsam, wenn man ein Gespräch mit ihm führen konnte. So war das auch an einem Abend im August 1993. Gemütlich saß ich bei ihm am Küchentisch, wo ich ein paar alte Fotos ausgebreitet hatte. Bald fanden wir uns in einem Gespräch wieder, in dem Friedhelm Regie führte. Es sprudelte nur so aus ihm hinaus und wir vergruben uns schnell in Gesprächsthemen, die nicht auf meinem Fragezettel standen. Es wurden zwei erquickliche Stunden in denen Friedhelm Geschichten aus seiner Jugend und Erkenntnisse zum Besten gab, die für mich als Dorfchronist nicht uninteressant waren. Und so sah ich mich genötigt, einen Teil unseres Gesprächs noch am nächsten Tag schwarz auf weiß festzuhalten. Dazu zählt diese Fastnachtsgeschichte: 

Friedhelm Schulte, verkleidet als "Hupette", den Wanderhändler aus Lochtrop
Friedhelm Schulte, verkleidet als "Hupette", den Wanderhändler aus Lochtrop

 

In den Nachkriegsjahren kam ein Händler regelmäßig durch unser Dorf und stellte sich mit folgenden Worten vor: "Ich heiße Lübke aus Lochtrop. Ich handele mit „Unnerbüchsen“ (Unterhosen), Schuhschmiere, Seifen und Spitzen."  Lübke stotterte stark und sein Sprachfehler brachte sein Sprüchlein besonders zur Geltung. Die Sallinghauser gaben ihm den Spitznamen "Hupette",  dessen tieferer Sinn heute nicht mehr nachvollziehbar ist.  Er führte auch Rattenfallen, Rauchwaren, Toilettentöpfe und andere obskure Gegenstände für den täglichen Gebrauch. Auf dem Rücken trug er den für einen Straßenhändler damals üblichen Tragekorb, in dem die Ware nicht nur transportiert, sondern auch teilweise seitlich angebracht für jedermann sichtbar mitgeführt werden konnte. Wenn Lübke in Sallinghausen auf Verkaufstour war,  ließ er sich gerne auf dem Hof Baust beköstigen. So auch an einem Montag vor Aschermittwoch,  Rosenmontag,  kurz nach dem zweiten Weltkrieg.

 

Die jungen Männer im Dorf hatten sich nach getaner Arbeit zum Fastnachtssingen verabredet. Friedhelm kam nach Hause und erzählte seinem Vater von dem Vorhaben. Unklar war ihm aber, in welcher Verkleidung er von Haus zu Haus gehen sollte. Schließlich sollte man ihn nicht erkennen. Sein Vater, auch im hohen Alter immer zu einem Scherz bereit, konnte sich entsinnen, dass der Marketender Lübke noch am gleichen Tag durch das Dorf gezogen sei und vermutlich noch bei Baust beim Kaffee saß. „Mach Hupette nach!“ war sein Vorschlag und er gab seinem Sohn noch den Rat, einen alten Heringskorb, welcher schon lange ungenutzt im Wege stand, auf den Rücken zu schnallen. Gesagt, getan!

 

Am Korb wurden zwei Schulterriemen befestigt und dann mit alten Töpfen und allerlei Gerümpel bestückt. Von meinem Großvater lieh sich Friedhelm kurzerhand ein Paar Gamaschen, klebte sich einen wüsten Bart ins Gesicht und half mit etwas Schminke nach. Es gelang ihm sehr trefflich und mit verstellter Stimme war das Double perfekt. Doch bald flog seine Identität auf, weil er vergaß, Hupette nachzuäffen. So zog er, wie auf den  Bildern zu erkennen, durch unser Dorf.

 

 

Theo Nolte und Anton Baust gesellten sich dazu. Ein Foto zeigt die drei auf Mathweis Hof. Von dort zogen sie weiter, mit Wurst und Eiern beschenkt, und verlebten an diesem Narrentag miteinander noch einige fröhliche Stunden.